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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
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über sein verpfuschtes Leben ist.«
    Es ist nicht üblich in ihrer Familie, über Gefühle zu reden. Die plötzliche Offenheit der Mutter verwirrte das Kind. Manches im Leben ist besser auszuhalten, wenn man nicht daran denkt. So wie der Großvater die Folter ertrug, erträgt sie die Schläge des Vaters. Doch Amas überraschende Worte fallen bis auf den Grund ihres Herzens. Darauf war sie nicht vorbereitet. Sie wünschte zu schreien – so laut, daß alle Vögel erschrocken aus den Gräsern hoch in den Himmel fahren. Gleich würde sie vom Pferd fallen und nur noch weinen – mit dem Gesicht zur Erde. Sie würde sich in die Hügel, die weiten Täler und Berge hineinweinen.
    Ihr Schmerz war ein See ohne Ufer. Ein Land aus Scherben und Tränen.
    Durch die Ritzen der Tür pfeift leise der Wind und löscht die letzte Glut des Feuers aus. Nun ist es ganz dunkel im Zimmer. Little Pema spürt, wie es in der weichen Mulde, die Po und Rücken in das Fell gegraben haben, allmählich klamm wird. Sie beschließt, durchzuhalten diese Nacht. Sie ist doch schon bald sieben! In der Seitenlage fühlt es sich vielleicht weniger feucht an.
    Durch das Fenster kann sie die Sterne funkeln sehen. Wenn Großvater von seiner Zeit im Gefängnis erzählt, sagt er immer: »Mit leerem Magen dauern die Nächte lang.«
    Mit nassen Hosen auch, denkt Little Pema und lauscht dem rasselnden Atem des Alten. Wenn der Vater im Haus ist, wohnt Großvater im Stall. »Lieber schlafe ich bei den Viechern als mit diesem Hurensohn unter einem Dach!« Übersiedelt Großvater zurück an das warme Plätzchen hinterm Herd, bringt er mit seinen Fellen auch wieder eine ganze Armee von Flöhen ins Haus. Wenn Little Pema seine krummen Zehen krault, schnurrt Opa wie ein alter Kater.
    »Du mußt sehr lieb sein zu Großvaters Füßen«, hat Amala einmal gesagt. Denn als Großvater sich im Gefängnis weigerte, den Dalai Lama eine ›Schlangenzunge‹ zu schimpfen, mußte er eine Winternacht lang auf dem Gefängnishof stehen. Eiskaltes Wasser haben ihm die Wärter über die bloßen Füße geschüttet. Und als er auf dem Beton festgefroren war, haben sie mit ihren Gewehren Löcher in die Luft geschossen und gedroht, auch ihn zu durchsieben, wenn er nicht endlich Beine mache. Als Großvater nicht von der Stelle kam, haben sie gejohlt und ihn schließlich mit Gewalt von der Stelle gerissen.
    Großvaters Geschichten waren immer schaurig und schön. Doch seit einiger Zeit redet er nicht viel. Er fürchtet, daß die Zeit nicht mehr reicht, um genügend Mantras für die Verfehlungen seines Lebens zu beten. Wenn Amala spätabends die Löcher in den Zäunen repariert, hockt Little Pema mit Großvater im Dämmerlicht und staunt, mit welcher Hartnäckigkeit der Alte seine Gebete gegen den Himmel schleudert: »Om mani padme hum, Om mani padme hum …« Nachts hängt sein Gemurmel immer noch unter dem undichten Dach ihrer niedrigen Hütte fest – wie der Rauch des erloschenen Herdfeuers.
    Jetzt fangen draußen die Hunde an. Jede Familie im Dorf hat ihren eigenen Wachhund. Tagsüber dösen sie faul in der Sonne, mit dicken Stricken an das Leben der Menschen gebunden. Doch nachts, wenn der Mond sich langsam aus der Hochebene löst, wird ihre wilde Seele frei und steigt heulend mit ihm in den Himmel. Wer vor der Zeit des Wolfsgesangs nicht in den Schlaf gefunden hat, bleibt bis zum Morgen wach.
    Little Pema zieht fröstelnd ihre steifen Beine an den Bauch. Sie könnte aufstehen und sich aus der Truhe frische Hosen holen, aber da ist die Angst, mit ihren nackten Füßen den eiskalten Boden zu berühren und daran festzufrieren. Obwohl – der Gedanke scheint auch verlockend. Dann bräuchte sie morgens nicht zur Schule zu gehen.
    Seit die Uhren in ganz Tibet auf ›Peking-Time‹ umgestellt wurden, wird es im Winter erst vormittags hell. Das kalte Neonlicht in den schlecht isolierten Klassenzimmern läßt die Gesichter der müden Kinder ganz grün aussehen. Bevor sie in die Schule kam, hat Little Pema davon geträumt, Klassenbeste zu werden. Aber ihr Lehrer ist Chinese, und es ist kaum möglich, dem Unterricht zu folgen, wenn man nur Tibetisch spricht. Deshalb hält der Lehrer die tibetischen Kin der in der Klasse für dumm und die chinesischen Kinder für fleißig. Und so wie im Westteil der Stadt die Chinesen leben und im Ostteil die Tibeter, sitzen in der rechten Hälfte des Klassenraums die dummen Kinder und links die fleißigen. Little Pemas Platz befindet sich in der hintersten Ecke

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