Flucht über den Himalaya
Ich schlug ihm vor, nach Deutschland zu kommen.
Bei einer Lesung in Bonn, zu der Lobsang mich begleitete, fragte ich spontan ins Publikum, ob irgendjemand einen Au-pair-Jungen aus Tibet bei sich einstellen würde. Am Ende der Lesung stand eine sehr sympathische und schöne Frau vor mir und sagte: »Mein Name ist Angela, und es gibt zwei Sachen, die ich Ihnen gerne sagen möchte: Erstens, ich würde Lobsang in unserer Familie aufnehmen, und zweitens ich bin Ihre Cousine.« Nun lebt Lobsang bei Angela, ihrem Mann Ingo und ihren vier Kindern.
Seit der Veröffentlichung dieses Buches füllt sich mein Leben mit Verwandten aus der Familie meiner leiblichen Mutter. Auslöser waren jene zwei kleinen Sätze, in denen ich kurz erwähnte, daß meine Mutter einmal aus dem Zimmer ging und ich wußte, sie würde nie mehr wieder zurückkommen. Damals war ich zweieinhalb.
Was genau in dieser frühen Phase meiner Kindheit geschehen war, wußte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Mehr als dreißig Jahre hatte ich mit der spärlichen Information gelebt, daß meine Mutter mich einfach verlassen hatte. Obwohl ich bei dieser Trennung noch so klein war und die Erinnerung an meine Mutter schnell verblaßte, hielt ich all die Jahre meine Gefühle aufrecht für sie und hegte die ganze Kindheit über den heimlichen Wunsch, sie nach Erlangung meiner Volljährigkeit zu besuchen. Doch dann starb meine Mutter genau drei Monate vor meinem achtzehnten Geburtstag. Es war nicht Trauer, die ich spürte, als ich von meiner Stiefmutter vom frühen Tod meiner Mutter erfuhr, denn im Grunde kannte ich sie ja nicht. Es war das Gefühl tiefen Versagens, nicht rechtzeitig vor ihrer Türe gestanden zu haben.
Vielleicht liegt darin der eigentliche Grund, warum mich die Not der tibetischen Flüchtlinge nun schon seit mehr als zehn Jahren beschäftigt und nicht losläßt: Ich möchte, daß Suja, Lobsang und ›meine‹ sechs Kinder ihre Mütter und Väter in Tibet irgendwann wiedersehen. Ihre Brüder und Schwestern, ihre Verwandten und die Freunde ihrer Kindheit. Ich möchte, daß die Grenze irgendwann fällt, so wie in Deutschland vor zwanzig Jahren die Mauer fiel – und es allen Exiltibetern irgendwann freisteht, ohne Sanktionen in ihre Heimat zurückzukehren.
Zur Zeit scheint die Erfüllung dieser Vision ferner denn je. Seit den Aufständen in Tibet im Frühjahr 2008 hat sich die Lage weiter verschlechtert. Tibet gleicht einem Gefängnis. Nur wenigen Flüchtlingen gelingt noch der illegale Grenzübertritt, die Wege sind noch strenger bewacht als früher. Die Zeit der großen Karawanen scheint erst mal vorbei. Auch jene Grenznomaden, die einst legal chinesische Waren über die Grenzpässe nach Nepal schleppen durften, erhalten momentan keine Handelspapiere. Offiziell kann laut chinesischer Regierung jeder Tibeter ein Ausreisevisum beantragen. Doch die Vergabe erfolgte immer schon ähnlich wie in der früheren DDR: völlig willkürlich. Niemand vermag vorauszusagen, ob und wann die chinesische Regierung ihre Kontrollen in Tibet wieder lockern wird.
Als Jörg und ich Ende 2007 Shelter 108 gründeten, war uns klar, daß es bei dieser Arbeit weniger um das Dokumentieren weiterer Fluchtbewegungen als um die großen Herausforderungen gehen würde, denen sich das tibetische Exil in den nächsten Jahrzehnten stellen muß.
Rund 130 000 Tibeter leben heute fern ihrer Heimat in Indien, Nepal, Bhutan und über die ganze Welt verstreut. Rund 17 000 tibetische Kinder und Jugendliche leben in insgesamt neun tibetischen Kinderdörfern. Es sind Kinder, die auf ihren eigenen Beinen ins Exil gewandert sind, aber auch jene, die im Exil als Kinder ehemaliger Flüchtlinge geboren wurden. Die meisten von ihnen sind staatenlos. Sie sind zu Gast im Exil, wie ihr geistlicher Führer, der Dalai Lama. Der Dalai Lama hat Tibet an China verloren, dafür aber die Herzen der Welt gewonnen. Als Staatenloser im indischen Exil benötigt er für seine Reisen ein »Certificate of Identity« (CI), eine Art indischen ›Ausreisepaß‹, vergleichbar mit dem Nansen-Paß der tibetischen Flüchtlinge in der Schweiz. Vor jeder Wiedereinreise nach Indien muß er ein Visum einholen.
Sollte jemals der Tag kommen, an dem die Mauer der Sprachlosigkeit zwischen der chinesischen Regierung und der tibetischen Exilregierung fällt, wird das Schneeland viele gut ausgebildete Tibeter brauchen, die bereit sind, in ihre Heimat zurückzukehren, um eine echte Autonomie aufzubauen. Eine gute Ausbildung ist
Weitere Kostenlose Bücher