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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
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sie nervös machte. Hier soll früher einmal ein riesiger Geier mit gebrochenen Flügeln gehockt haben – so lange, bis er sich in den Felsen verwandelte, an den der Großvater nun seinen krummen Rücken lehnt.
    Little Pema kann sich nicht erinnern, daß es Großvater jemals wirklich gelungen wäre, Regen zu erbitten. Aber solange Schafe und Yaks die Dürre überleben, sind die Bauern zufrieden, und man ist stolz darauf, einen Regenmacher unter sich zu haben.
    Sie haucht in die Nacht. Vielleicht können die Geister ihren Atem sehen. Es ist jetzt eisig kalt in der Hütte. Großvater hustet. Ein trockener Husten, der den ausgemergelten Körper beutelt. Der große Dolch klappert im silbernen Futteral. Großvater nimmt ihn sogar mit ins Bett. Türkise und rote Korallen zierten einst den prächtigen Schaft seiner Waffe. Die Steine sind längst ausgefallen. Wie Großvaters Zähne. Doch die Schneide ist immer noch scharf. So wie sein Geist.
    Den Schwiegersohn hat Kelsang Norbu von Anfang an nicht leiden können, denn er war ein ›Überläufer‹, der mit chinesischen Thermoskannen handelte und Regenjacken, die keiner mehr brauchte. Unter normalen Umständen wäre ihm der junge Mann nie über die Schwelle gekommen. Doch als seine Tochter sich in diesen Taugenichts aus Chamdo verliebte, saß er wieder einmal im Gefängnis: Er hatte zum nationalen Feiertag der Besatzer statt der chinesischen Flagge seine langen Unterhosen aufs Dach gehängt. »Zum Lüften«, wie er den Polizisten beteuerte.
    Normalerweise übersiedelt die Braut nach der Hochzeit zur Familie des Mannes. Doch da der Bräutigam weder Haus noch Familie hatte, die Frischvermählte aber ein Haus, in dem der Mann fehlte, wurde von nun an unter Kelsang Norbus undichtem Dach der tibetische Buttertee in chinesischen Thermoskannen serviert.
    Ein Scheppern in den Regalen reißt Little Pema aus ihren Gedanken. Ratten. Sie sausen von links nach rechts und quer durch den Raum. Vielleicht sind es zwei, vielleicht auch mehr. Wie sind sie in die Hütte gekommen?
    »Die Leere in unserem Speicher lockt das Ungeziefer ins Haus«, schimpft Großvater immer, »bald besteuern die Chinesen auch noch die Lumpen, die wir auf dem Körper tragen. Bis irgendwann gar nichts mehr von uns übrigbleibt, nur unsere blanken Knochen!«
    Peng! Das war eine Opferschale, die scheppernd zu Boden ging.
    Stille.
    Die Mutter ist nicht aufgewacht. Auch Großvaters gleichmäßiger Atem rasselt weiter durch die Nacht.
    Einmal hat Little Pema im Stall junge Ratten gefunden. Sie waren gerade neu geboren, und ihre Haut war noch ganz rosig. Großvater hat sie hinaus in die Felder getragen. Seit er aus dem Gefängnis zurück ist, tötet er keine Tiere mehr. Den Hund hat er auch von der Kette gelassen. Der ist jetzt sanft und schlägt nicht mehr an.
    Großvater hat nie darüber gesprochen, wie viele Chinesen er auf dem Gewissen hat. Der Widerstandskampf ist lange her, und wenn es um die Freiheit geht, drücken die Götter vielleicht ein Auge zu.
    Wenn diese Nacht ewig dauern würde, müßte sie morgen nicht zur Schule gehen.
    Wenn diese Nacht ewig dauern würde, müßte sie keine Angst mehr haben – vor dem Vater und der Schmach, verprügelt zu werden.
    Wenn diese Nacht ewig dauern würde, wären auch die Löcher in ihren Strümpfen egal.
    Wenn diese Nacht ewig dauern würde, bräuchte sie nicht nach Indien zu gehen.
    Doch wenn diese Nacht ewig dauern würde, müßte auch Großvaters Gebetsmühle für immer ruhen.
    »Kommst du mit?« hatte sie ihre Ama gefragt, nachdem sich die Sonne hinter den Bergen verkrochen hatte.
    »Ich bleibe bei Großvater und Tashi. Tashi ist zu klein und der Großvater zu alt für den weiten Weg.«
    »Wann muß ich gehen?«
    »Sobald es die Würfel mir sagen.«

Köln, im Winter 1997
    Nirgendwo fühle ich mich so wohl, wie auf Jürgens grauer, abgewetzter Couch, deren Anblick nur durch einen üppig geblümten IKEA-Überwurf erträglich ist.
    Jürgen ist Journalist bei der Tagesschau, mein bester Freund, und wenn ich Angst vor wirren Träumen habe, darf ich bei ihm klingeln, zweimal kurz, einmal lang, dann weiß er, daß ich es bin. Denn in meiner engen Dachbude lebt es sich gefährlich als Schlafwandlerin. Vor einigen Tagen bin ich aufgewacht, als ich mich mit nackten Armen durch den Schnee wühlte, der nachts auf Köln herabgefallen war. Ich hatte von einem verlorenen Schlüssel geträumt und war gerade dabei, ihn auf meinem verschneiten Dach zu suchen. Jürgen wohnt im zweiten

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