Flucht über den Himalaya
E-Mail. Ich hätte sofort in das nächste Flugzeug steigen müssen. Doch zu diesem Zeitpunkt war ich bereits im achten Monat schwanger, suchte mit Jörg eine gemeinsame Wohnung in Köln und mußte in Wien zwei neue Dokumentarfilme schneiden.
Also mailte ich Lobsang, daß nur er herausfinden kann, ob sein Eintritt ins Klosterleben bloß den Wünschen seiner Mutter in Tibet entsprach oder er im Inneren seines Herzens zum Mönch berufen ist. Nach dieser E-Mail legte Lobsang seine dunkelroten Tücher für immer ab.
Und ich habe ein Problem.
Denn wie kann die Zukunft eines Siebzehnjährigen aussehen, der außer buddhistischer Philosophie nichts gelernt hat? Der zu alt ist für eine Ausbildung im TCV und zu jung für die Transitschool? Der zu intelligent für einen Hilfsarbeiter und zu unerfahren für das alltägliche Leben ist? Ich sehe im Augenblick keinen Weg für Lobsang und hoffe, daß sich bald eine unerwartete Tür auftut, die uns gemeinsam weiterführt.
Drei Jahre sind vergangen, und vieles ist geschehen. Die sechs Kinder sind durch alle Höhen und Tiefen eines Kinderlebens gegangen, sie sind reifer geworden. Und es ist mir eine große Freude, sie heranwachsen zu sehen. Ein Glück, das ihren Eltern in Tibet verwehrt bleibt.
Wird Chimes Mutter jemals erfahren, wie hübsch ihre Töchter geworden sind?
Ich wünschte, Dhondups Vater könnte die Zeugnisse seines Sohnes, in denen sich seine Lehrer vor Lob überschlagen, in der Hand halten!
Wie glücklich wäre Little Pemas Mutter, wenn sie sehen könnte, daß ihr kleines Mädchen in der Gemeinschaft seiner neuen Geschwister das Kindheitstrauma langsam zu überwinden scheint.
Ein letztes Mal drücke ich die Reviewtaste an meinem Videorekorder und spule die Aufnahme zurück. Hier sehen unsere Kinder noch so aus, wie ihre Mütter und Väter sie kennen. Dhondup trägt einen roten Anorak und Little Pema ihre viel zu große Jacke.
»Was hast du?« fragte Dolker den weinenden Dhondup.
»Nichts«, antwortete Dhondup, »meine Augen sind nur wund.«
Mit einem Reim zählte Suja aus, wer als nächstes singen sollte: »Kleiner Hase, weiß und fett, frißt gern Rettich, frißt gern Möhren. Friß bloß nicht zuviel davon, sonst wird dich der Adler holen!«
»Pema tschungtschung!« riefen die Kinder und lachten.
Das Lied, das Little Pema damals in Richys Kamera sang, ist für mich das traurigste aller Amala-Lieder. Denn es läßt auch die Bilder der Erinnerung, die Tibets Kinder von ihren Müttern in sich tragen, allmählich altern …
In weiter Ferne liegt ein kleines Dorf,
dort lebt meine Mutter.
Sie gab mir die Milch ihrer Brüste,
die wie Honig schmeckte,
damit ich groß und kräftig wurde.
Doch die Haare meiner Mutter
färben sich langsam grau,
und jeder Tag, der uns trennt,
bringt neue Falten in ihr Gesicht.
Ich möchte sie wieder jung machen,
doch das geht nicht.
Ich kann nur weinend ihr Bild küssen,
um ihr meine Liebe zu zeigen.
Unsere »new family«
– neun Jahre später –
Ich bin noch etwas erschöpft. In meinem windzerzausten Haar hängt der Staub vom Himalaya. Meine Lippen sind aufgesprungen, meine Haut ist von der Sonne verbrannt.
Neun Jahre nach ihrer Flucht aus Tibet bin ich gemeinsam mit Dhondup, Tamding, Dolker, Lhakpa und Little Pema am 9. Februar 2009 noch einmal in Richtung des Grenzpasses aufgebrochen, um eine neue Kinodokumentation zu drehen: Über die Entwicklung der Kinder, ihre Gefühle und Zukunftsvisionen. Viele meiner Leser und Zuschauer hatten über die Jahre großen Anteil an der Geschichte ihrer Flucht genommen. In Leserbriefen, Gesprächen und E-Mails wurde ich immer wieder gefragt, was eigentlich aus ›den sechsen‹ geworden sei. Diesem Interesse wollten wir nun mit dem neuen ZDF-ARTE-Film Good Bye Tibet begegnen.
Mit unserem Aufstieg zum Grenzpaß wollte ich aber auch einen Schlußpunkt hinter die Dokumentation ihrer Kindheit setzen. Denn aus den sechs Kindern sind nun junge Menschen geworden.
Ich hatte über die Jahre viel Bildmaterial von ihnen gesammelt. Ich dachte mir immer: Irgendwann werde ich all diese Fotos und Filmausschnitte ihren Eltern nach Tibet bringen, damit sie ihre Kinder wenigstens auf Bildern heranwachsen sehen können.
Unsere erneute Annäherung an die Grenze zu Tibet war eine bewegende Reise in die Vergangenheit. Wir suchten jenen Ort auf, an dem wir einander vor neun Jahren zum ersten Mal begegnet waren. Wir besuchten die Sherpa-Familie, die uns damals bewirtet hatte, und trafen schließlich
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