Flucht über den Himalaya
Persönlichkeiten auf unserer Erde. Deswegen werden sich die Chinesen irgendwann mit ihm arrangieren müssen. Dann wird Tibet eine autonome Region sein, in der endlich Religionsfreiheit und Menschenrechte gewahrt werden. Und dann werden wir Exiltibeter endlich wieder nach Hause zurückgehen. Irgendwann. Früher oder später.«
Meine nächste Station ist Delhi, wo ich unseren ›Ältesten‹ treffe: Lobsang, der mit dem Zug aus Südindien kommt, wo er nun zusammen mit dreitausend Mönchen in einem riesigen Kloster lebt. Knitterfrei, fleckenlos und mit einem strahlenden Lächeln auf den makellosen Zügen steigt er aus dem überfüllten, stinkenden Dritte-Klasse-Waggon. Schon auf der Flucht war Lobsang der einzige von uns allen, der nie Dreck unter den Nägeln hatte.
Als wir in Dharamsala mit einer Rikscha die schmale Straße zum Tibetischen Kinderdorf hinaufrattern, das auf einem Hügel oberhalb von McLeod Ganj liegt, kann ich unsere Sechserbande am großen Eingangstor schon warten sehen.
»Hallo, Zazie! Hallo Lobsang! How are you?« brüllt uns Dhondup mit seiner kräftigen Stimme entgegen. Die anderen lächeln etwas scheu mit ihren weißen Glücksschleifen in der Hand, die sie uns gleich zur Begrüßung überreichen werden.
Nach ihrer Flucht waren die Kinder dünn und abgemagert von den schweren Strapazen. Jetzt haben sie volle Backen, sehen rund und gesund aus. Daß ich statt meiner hundertacht exotischen Amdo-Zöpfe nur noch zwei stinknormale Pippi-Langstrumpf-Schwänzchen trage, scheint sie gar nicht zu irritieren. Als erste greift Little Pema nach meiner Hand, und es ist klar, daß sie sie bis zum Abend nicht mehr loslassen wird.
Dhondup besteht darauf, daß ich sofort in ihr Kinderhaus komme. Seine Hausmutter erwartet uns schon mit frischen Kabzes und Tee: eine schlichte, herzliche Frau, die den Kindern viel Zuwendung schenkt. Im Gegensatz zu einem deutschen SOS-Kinderdorf, in dem die Hausmütter eine überschaubare Menge an Kindern zu betreuen haben, muß eine tibetische Hausmutter bis zu vierzig Kinder hüten! Ein harmonisches Zusammenleben funktioniert nur, indem sich die Älteren um die kleinen Kinder kümmern. Und unsere sechs halten zusammen, als wären sie schon immer Geschwister gewesen. Als Little Pema beim Ballspiel auf dem großen Sportplatz von einem großen Kind das harte Leder gegen den Kopf geknallt bekommt, sind sofort fünf Geschwister zur Stelle, um sie zu trösten. Immer noch wirkt unser Küken labil und fängt sehr schnell zu weinen an.
»Ihre Wunden werden irgendwann wieder verheilen«, sagt die Hausmutter und führt mich in einen großen Gemeinschaftsraum, in dem ein Videorekorder bereitsteht: Die Kinder haben ihr erzählt, daß ich einen Film über ihre Flucht mitbringen werde, und sie können es kaum erwarten …
Kurze Zeit später drängen sich vierzig Kinder vor den kleinen Fernseher. Mitten unter ihnen Lobsang und ›unsere sechs‹. Und jedesmal wenn eines von ihnen ins Bild kommt, verstecken sie sich mit hochrotem Kopf hinter den anderen. Doch als der Film fertig ist, muß ich ihn gleich noch einmal zeigen, und danach zerren sie mich an der Hand in die anderen Hausgemeinschaften, damit ich auch da unseren Film vorführe. Und danach muß ich den Film den Lehrern zeigen. Und danach den Angestellten des TCV. Und als zum zehnten Male die Stelle kommt, an der Dhondup weinend von seinem Abschied erzählt, schafft er es zum ersten Mal, sein Gesicht nicht hinter Chimes Rücken zu verbergen.
Am nächsten Tag mache ich mich auf die Suche nach dem Rest unserer Flüchtlingsgruppe. Die Transitschool – eine große Ausbildungsstätte für junge Flüchtlinge ab dem achtzehnten Lebensjahr – liegt weit außerhalb Dharamsalas. Etwa siebenhundert junge Männer gehen hier zur Schule. Die ganze Anlage befindet sich zum Zeitpunkt meines Besuchs noch im Aufbau.
Nach langem Suchen finde ich endlich einen Tibeter, der mich versteht und weiß, wer mit ›Suja‹ gemeint ist. Während mich der junge Mann zu einer der provisorischen Baracken begleitet, erklärt er mir, daß mein Freund sehr krank sei.
In der hintersten Ecke der Notunterkunft entdecke ich unseren ›Soldier‹. Er schläft.
Ich setze mich zu ihm. Er wirkt so schmal auf seinem Feldbett. Vorsichtig rüttle ich ihn wach:
»Suja-la, it’s me. Zazie.«
Als Suja seine Augen aufschlägt, lächelt er und sagt in gebrochenem Englisch: »Zazie-la. I know you come Dharamsala.«
Von den sechs jungen Männern unserer Gruppe ist Suja der
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