Flucht über den Himalaya
gemütlichem, aber recht engem Zimmer. Chime und Dolker gehen dann einkaufen, Little Pema und Dhondup fegen die Bude, Lhakpa und Tamding kochen für alle. Bei schönem Wetter unternehmen sie einen Ausflug zum Tempel. Streift der Sommermonsun Dharamsala, spielen sie Karten. Nachts überlässt Suja den Mädchen sein Bett und schläft mit Dhondup und Tamding darunter.
Über E-Mail hält er mich auf dem laufenden und schickt mir per Attachment manchmal sogar Fotos von den Kindern! So können Jörg und ich ihre Entwicklung über Laptop verfolgen.
Eines Tages lag ein Foto in Jörgs Mailbox, das Suja ihm vertraulich ›von Mann zu Mann‹ geschickt hatte. Es zeigte ihn mit einem hübschen jungen Mädchen im Arm; »This is my love. Her name is Corinne«, schrieb er darunter.
Corinne kommt aus der Schweiz. Ein Jahr lang war sie alleine durch Asien gereist, und ihre letzte Station war Shrinagar gewesen. Als es dort zu erbitterten Kämpfen zwischen Kashmiri und Indern kam, setzte sich Corinne in den nächstbesten Bus, um vor den Bomben zu fliehen. Sie wußte nicht einmal, wohin der Bus sie bringen würde, und landete nach einer dreitägigen Fahrt durch den Himalaya in Dharamsala. Daß dies der Wohnsitz des Dalai Lama ist, erfuhr sie erst bei ihrer Ankunft. Ein guter Ort, dachte sie und blieb.
Auf der wackeligen Holzbank einer tibetischen Straßenküche begegnete sie schließlich einem Tibeter mit langen Haaren, einem warmen Lächeln und einer großen Narbe über der linken Braue …
In einem indischen Polizei-Office haben Suja und Corinne geheiratet. Der Beamte, der den Trauschein ausstellte, machte böse Bemerkungen über Suja, den Staatenlosen. Und der Trauschein sieht aus, als hätte er seine fettigen Finger daran abgewischt.
Am Tag ihrer Hochzeit stiegen Suja und Corinne in die Berge, wo das Wasser der Gebirgsflüsse in große, steinerne Becken fällt. Dort brachte Corinne ihrem staatenlosen Ehemann das Schwimmen bei. Die Kinder waren beeindruckt, denn es gibt kaum einen Tibeter, der schwimmen kann. Die Seen in Tibet sind entweder zu kalt oder zu heilig, um darin zu baden.
Irgendwann war es für Corinne an der Zeit, in die Schweiz zurückzukehren. Arbeiten. Geld verdienen. Alltag.
Ein verheirateter Mann sollte bei seiner Frau leben. Vor allem, wenn er sie liebt. Und ein Vater sollte sich nie von seinen Kindern trennen, auch wenn er nur ein Ersatzvater ist.
Nach einer langen Phase der Ratlosigkeit entschied sich Suja, seiner Frau in die Schweiz zu folgen. Bevor er Dharamsala verließ, gab er den Kindern noch zwei Versprechen. Ein großes und ein kleines:
»Im nächsten Sommer werde ich euch das Schwimmen beibringen«, war das kleine.
Das große Versprechen flüsterte Suja ganz leise in ihre Ohren, denn es wahr zu machen würde lange dauern: »Eines Tages werden wir alle zusammensein.«
Seit Suja weg ist, träumen die Kinder von einem Leben in der Schweiz, und Dhondup hat beschlossen, Fußballstar in der Schweizer Nationalmannschaft zu werden.
»My new family« hat Chime ihr Bild genannt, das ich zuletzt in meinem Postkasten fand:
Corinne, Suja, Jörg und ich stehen mit dem Rücken zum Betrachter Hand in Hand vor drei sehr hohen Bergen, über dessen Grat sechs Kinder laufen und zu uns herunterwinken. In einem kleinen Tal ruht sich ›little Yak‹ aus – unser dickes Baby. Und auf dem höchsten aller Gipfel steht Lobsang und wirft Dutzende von kleinen Gebetszetteln in die Luft. Vom Wind erfaßt, fliegen sie weit hinaus in den tiefblauen Himmel ihrer neuen Heimat.
Als Suja in die Schweiz übersiedelte, hat Lobsang sein Zimmer, sein Bett, sein Kochgeschirr und die Verantwortung für die Wochenendgestaltung der Kinder übernommen. Lobsang ist nicht länger Mönch.
Angefangen hat es damit, daß er das subtropische Klima Südindiens nicht vertrug und sehr krank wurde. In einem seiner Briefe bat Lobsang mich, nach Dharamsala zu Suja und den Kindern umziehen zu dürfen. Doch Dharamsala ist kein idealer Ort für einen siebzehnjährigen Mönch. Die hübschen Touristinnen, die Bars und Kneipen wirkten verwirrend auf den Pubertierenden.
Auf dem Markt von Dharamsala kann man rote Lederjacken kaufen und Turnschuhe mit drei weißen Streifen. Und so begann Lobsang, zwischen zwei Welten zu jonglieren. Abends ging er cool gekleidet Billard spielen, um am nächsten Morgen schnell wieder in die vertraute Mönchsrobe zu schlüpfen.
»Meine liebe Mutter, sag mir, was ich tun soll!« schrieb Lobsang mir in einer verzweifelten
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