Flucht übers Watt
dass er grade eine unglückliche Liebesgeschichte hinter sich hatte und für ein paar Tage aus allem herauswollte.
»Hier kommt erst mal Kaffee.« Die Wirtin, Frau Boysen, betrat mit knarzenden Gesundheitsschuhen den Raum.
»Und Sie nehmen doch sicher ein Eichen, Herr äh ... äh ... Is schon fertig«, sagte sie, ohne Harrys Antwort abzuwarten und stellte ihm einen Eierbecher mit einer kleinen gehäkelten Pudelmütze hin.
»Harry Heide«, dachte er. Komischer Name. Daran musste er sich erst noch gewöhnen.
»Und hat unsere Frau Scheuermann-ähh noch Wasser?«
Die Frau im Karibikshirt trank offensichtlich nur |64| irgendeinen Kräutertee. Sehr zum Unmut von Frau Boysen.
»Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit am Tag«, sagte die Mutter vom Fenstertisch, die für ihren Sohn Brötchen mit überlappender Jagdwurst belegte und damit kaum nachkam, während der Dicke sie sich in wenigen Bissen einverleibte und mit großen geräuschvollen Schlucken Kaffee hinunterspülte.
Auch aus dem Fenster des Frühstückraumes hatte man vorbei an dem benachbarten Reetdachhaus und dem weiter entfernt liegenden »Haus des Gastes« einen Blick auf das Wattenmeer. Doch durch die Vorhänge war kaum etwas zu erkennen. Vielleicht lag es auch an dem Nebel. Der Raum war überheizt, sodass Harry in seinem dicken Troyer schwitzte. Er behielt ihn trotzdem an. Über der Tür leuchtete ein kleines grünes Schild für den Fluchtweg. An der Wand auf der Grastapete hing ein Reliefbild der »Kaiseryacht Hohenzollern«, wie dem Messingschild darunter zu entnehmen war. Das Schiff vor einem blau gespachtelten Himmel durchpflügte eine impressionistisch getupfte stürmische See. Die maritime Szenerie spielte sich hinter einer Glasscheibe in einem dunkel glänzenden Holzrahmen ab.
Es roch nach Waschmittel und penetrant nach Kaffee. Die pappigen Brötchen quietschten beim Bestreichen auf dem Teller. Harry löffelte sein Ei, das schon fast kalt und viel zu weich war, und versuchte krampfhaft, den Blicken von Silva Scheuermann auszuweichen und stattdessen an dem Dicken vorbei aus dem Fenster zu gucken. Ein satter Klecks Eigelb tropfte ihm auf die blaue Plastiktischdecke mit der weißen Kordelkante. |65| Aus dem aufgeschäumten, wie gehäkelt wirkenden Plastik war das Eigelb mit einer Serviette nicht herauszubekommen.
»Nur Tee und Trockenobst, das kann doch nicht gut sein«, sagte Mutter Wiese und schob ihrem Sohn Hans-Peter die nächste Brötchenhälfte auf seinen Teller.
»Na, Ihnen würde ein bisschen andere Ernährung auch ganz guttun«, konterte die Frau in dem Karibikshirt.
»Er isst, was ihm schmeckt. Was Hans-Peter?«
»Jaja«, mampfte der Dicke und spülte mit einem kräftigen Schluck Kaffee nach. Dabei geriet der Stuhl mit dem Sitzpolster, dessen Muster wie ein verblichener Paul Klee aussah, unter seinem Gewicht gefährlich ins Knarren.
»Ein richtiger Mann braucht was Richtiges zu essen«, sagte Frau Wiese und biss zur Abwechslung mal selbst in ein Wurstbrötchen.
Im Gegensatz zu ihrem Sohn war sie eine halbe Person mit einer Betondauerwelle und einer großen Brille mit Goldrandbügeln, die mit einem Schwung unten an den Gläsern ansetzten, sodass sie wie falsch herum aufgesetzt wirkte.
»Richtiger Mann, pah«, sagte Silva Scheuermann und drehte dabei kurz den Kopf, dass ihr ein paar der im Haar hängenden Holzperlen um die Ohren flogen. Harry sah kurz zu ihr hinüber, worauf sie ihn noch eindringlicher anstarrte.
»Das Wetter sieht gar nicht gut aus«, sagte der dicke Hans-Peter, der jetzt eine ›Bild‹-Zeitung herausgeholt hatte.
|66| Harry wurde nervös angesichts der Zeitung. Gab es Meldungen über den Nolde-Diebstahl? Doch die Zeitung war von gestern, wie er dann gleich an dem Wochentag »Mittwoch« unter dem großen ›Bild‹-Logo auch über den Tisch hinüber erkennen konnte.
»Morgen soll es besser werden. Dann nur noch Schauer, hat er gesacht«, schaltete sich Wirtin Boysen mit der Thermoskanne in der Hand ein.
»Das sind doch fantastische Stimmungen, regelrechte Lichtereignisse am Himmel.« Silva Scheuermann-Heinrichs Stimme neigte etwas zum Quakigen, wenn sie sich echauffierte.
»Was meinen Sie?«, wandte Harry sich an die Pensionswirtin, »ich wollte es mal mit frischem Fisch am Krabbenkutter versuchen. Würden Sie mir den abends braten?«
»Nu sehen Sie man erst mal, dass Sie was bekommen. Wenn das man nicht schon zu spät is.«
»Ich denk um zehn.«
»Um zehn steht da schon ’ne Schlange.«
»Ach
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