Flucht übers Watt
ihrer |79| Tochter in dem wunderschön gelegenen Leuchtturm mit Kunstdiebstählen und Fälschungen ergaunert hatten, war für ihre Kunden, ihre Freunde und Nachbarn wahrscheinlich unvorstellbar.
An der Nordsee will Zoe erst mal ihre Ruhe haben und nicht gleich wieder den nächsten Kunstcoup abwickeln. So haben die beiden ihr Zimmer bei »Hüttmann« bezogen. Statt in einer miefigen Pension wollten sie dann doch lieber in einem richtigen Hotel wohnen. Und für das erste Haus am Platz ist das »Hüttmann« vergleichsweise unprätentiös, abgesehen von dem Rotarier-Zeichen neben dem Eingang. Das gelbweiß gestrichene Hotel mit der hübschen alten Holzveranda erinnert die beiden an ein flotteres B&B bei ihnen an der Ostküste. So miefig, wie Harry sie ihr beschrieben hat, findet Zoe die Nordsee gar nicht. Und er muss ihr recht geben.
Ihr Zimmer ist hell und freundlich mit geblümten Laura-Ashley-Vorhängen, weiß lackierten Möbeln und Korbstühlen. Auf dem karierten Bettüberwurfliegen ein paar Strandklamotten, ein Nolde-Katalog von heute Nachmittag und eine deutsche Ausgabe des ›Schimmelreiters‹, den Zoe hier an der Nordsee lesen will. Daneben die beiden Schlüssel an dem abgenutzten Holzanhänger mit dem Gummiring und der immer noch gut lesbaren Aufschrift »Eiderente«. Seinen Zimmerschlüssel aus der »Nordseeperle« hatte Harry damals nicht weggeworfen. Er hat ihn all die Jahre über aufbewahrt und jetzt nach Deutschland wieder mitgenommen.
|80| »Wahrscheinlich ist es auf Amrum mittlerweile wie auf Sylt«, sagt Harry. Aber als sie vor dem Essen durch den Ort flanieren, ist er fast beruhigt. Das Café Schult und das nette kleine Inselkino sehen aus wie früher. Aus dem »Rialto« riecht es gefährlich nach verkohlter »Quattro Stagioni«. Auf der Bank vor dem Tourismusbüro sitzt ein Rentner mit einer hellblauen Schiffermütze und einer Frau, die nicht nur Gisela heißt, sondern auch genauso aussieht. Eine Bank weiter hängt ein junger Typ mit Spiegelsonnenbrille und Berliner Akzent und raucht. Neben ihm, verstummt, ein Mädchen in einem grauen T-Shirt mit Sternen, darauf lilametallisch glänzend die Schrift »Rock Angel«.
Harry isst Schollen, und Zoe bekommt ihre Austern und mit Nordseekrabben gefüllte Seezunge. Dazu haben sie eine Flasche deutschen Riesling bestellt, der deutlich besser ist als in den Staaten.
»Neununddreißig Euro«, sagt Zoe mit Blick auf die paar verlorenen Krabben auf ihrem Teller. »Das sind fast sechzig Dollar. Dafür bekommst du bei uns an der Bay eine ganze Menge Crabs.«
Am Nebentisch sitzen grau melierte Männer in Ralph-Lauren-Pullovern und beklagen sich, dass man zum Golfspielen nach Föhr hinüberfahren muss. Ihre Frauen trinken Schampus und finden die kleine Bedienung mit dem blonden Pferdeschwanz »echt süß«. Ihre dicken BMWs und Geländewagen auf dem Parkplatz mit Seeblick haben N F-Kennzeichen und daneben ein kleines silbriges Abziehbild mit den Umrissen von Amrum, damit sie ja keiner mit einem Bauern aus Bredstedt verwechselt. Zoe ist bester Stimmung. Daran |81| hat auch der Mosel seinen Anteil, den sie zu einem beträchtlichen Teil getrunken hat.
Als sie den Flur zu ihrem Zimmer entlanggehen, kichernd und mehr aus Spaß ein wenig schwankend, schmiegt sie sich an Harry. Sie fasst ihm unter sein Hemd und T-Shirt und küsst ihn auffordernd. Doch in ihrem Zimmer, als er vom Zähneputzen aus dem Bad zurückkommt, ist Zoe selig eingeschlafen. Die Nordseeluft und der Mosel haben sie schlagartig außer Gefecht gesetzt. Und Harry ist kurze Zeit später auch gleich weg und träumt wild.
Achtzehn Jahre hatte sie sich ferngehalten aus seinen Träumen. Jetzt ist sie plötzlich wieder da: Putzfrau Quarg mit der fein gekrisselten rotvioletten Dauerwelle starrt ihn durch die dicken Brillengläser an.
»Dat darf doch wohl nicht wahr sein. Ich hab hier grad alles sauber.«
Ohne Zoe zu wecken, sucht sich Harry am Morgen leise seine Laufsachen aus dem Gepäck heraus und stiehlt sich aus dem Zimmer. Er läuft am Watt nach Nebel, vorbei am Teehaus Burg und an den Betonschüsseln der Kläranlage mit Seeblick. Es ist Niedrigwasser, und das Watt riecht leicht brackig. Der Himmel ist wolkenlos, es ist windstill. Die Pfützen, die das ablaufende Wasser im Watt hinterlassen hat, glitzern im Gegenlicht. Das helle Piepen einer Gruppe von Austernfischern ist das einzige Geräusch an diesem Morgen. Im Moment ist es noch kühl. Aber es verspricht ein warmer Sommerferientag am Meer
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