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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Boy Jensen.
    »Heute Abend ist Vernissage. Du musst natürlich kommen. Machen wir uns ein bisschen Spaß mit den Spießern hier. Ich leb jetzt drüben auf Sylt.«
    Sein früherer Mitstudent hatte sich äußerlich auffällig verändert. Er wirkte regelrecht verkleidet mit dem blaugrau gestreiften Schauermannhemd und der unnatürlich |70| neu wirkenden Schiffermütze. Und dann dieser lächerliche fusselige Bart, der wie angeklebt aussah.
    »Bist du allein hier auf der Insel?« Irgendwie hatte Harry das Gefühl, das Kieso sich wunderte, was er hier machte.
    »Mein Gott, Harry, ich fasse es nicht. Nach der Vernissage müssen wir einen trinken. Wie geht’s dir? Malst du?«
    »Ja schon. Aber es ist nicht einfach, etwas zu verkaufen«, sagte Harry, dem die ganze Situation unangenehm war.
    Doch Kieso, der ganz mit seiner Ausstellung beschäftigt schien, ging darüber hinweg und zog kurz den Schirm seiner Schiffermütze zurecht.
    Vor ein paar Jahren hatte er noch schwarze Rollkragenpullover getragen und in der Oberhafenkantine mit anderen Kunststudenten und Hafenarbeitern Bier aus Knollenflaschen getrunken. Die Oberhafenkantine war eigentlich eine ganz normale Kneipe im Freihafen, in der die Schauerleute nach der Schicht ihr Bier tranken. Von einem Monat zum anderen war sie zum Szenetreffpunkt erklärt worden. Seitdem saßen ganz in Schwarz gekleidete Kunst- und Philosophiestudenten in den unverändert belassenen Räumen vor der Theke unter den mit einer Holsten-Reklame verkleideten Neonröhren und tranken Flaschenbier. Dazwischen nur noch vereinzelt wie zur Dekoration ein besoffener Malocher.
    Bei der Kontaktaufnahme zur Arbeiterklasse war Kieso ganz vorn mit dabei gewesen. Eigentlich hieß er Reinhard Kieseritzky. Im Studium und gleich danach, |71| als er noch schwarze Rollis trug und Gebrauchsgegenstände mit Farbe bekleckerte, hatte er sich Kieso genannt, nicht Reinhard Kieso, einfach nur Kieso. In seinem Peugeot-Kombi verfrachtete er ganze Wagenladungen voll farbiger Eimer, mit derbem Bindfaden verschnürter Altpapierstapel und versiffter Küchenspülen in Barmbeker Fabriklofts. Zusammen mit Albert Ahlen hatte er in einer der Galerien in der Admiralitätsstraße mehrere Käse an die Wand genagelt und untereinander verdrahtet. Ahlen hatte Erfolg mit seinen Objekten wie dem mit Haferflocken beklebten Ford Capri. Während die »Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen« in Düsseldorf das erste Ölbild von Ahlen ankaufte, war Kieso auf seinem Käse und den verdreckten Spülen sitzengeblieben und hatte sich als verkannter Künstler gefühlt.
    Jetzt hatte sich sein früherer Kommilitone also auf Sylt niedergelassen und malte Leuchttürme und Fischstillleben. Kieso reichte Harry einen der Handzettel zur Ausstellung, die er in einem Pappkarton bei sich trug. »Meeresimpressionen«. Aus Verlegenheit begann Harry sofort darin zu lesen. Kieseritzky machte mit seinem Äußeren einen auf Sailor, und er hatte sich eine entsprechende Biografie zusammengezimmert. Mit Kindheit in Asien, mehrjähriger Fahrt zur See und Vorfahren im Walfang.
    »Walfänger, Reinhard, ist das nicht ’n bisschen dicke?«, sagte Harry. Und diesmal, so hatte er das Gefühl, gelang ihm das arrogante Grinsen schon besser.
    Doch Kieso beachtete es kaum. Eine Frau fuhr auf dem Fahrrad an ihnen vorbei. Sie trug eine Ballonmütze |72| auf den roten Haaren, einen bunt melierten grobmaschigen Rollkragenpullover und trotz des grauen Wetters eine riesige Sonnenbrille. Sie lachte ihnen zu und sagte »Hallo«.
    »War das nicht   ...?«
    »Das war die Katja«, sagte Kieso.
    »Katja Epstein, richtig?«
    »Echt nett, die Katja.« Reinhard Kieseritzky war offensichtlich schon voll integriert.
    »Hier auf Amrum sind das ja nur die Katja und Hermann Prey«, sagte Reinhard und kratzte sich in seinem fusseligen Bart. »Und dann noch Felmy und Peer Schmidt.«
    »Peer Schmidt? Die Stimme von Belmondo in ›Außer Atem‹. Oder?«
    »Genau. Der lebt den Sommer hier auf Amrum und schneidet seine Ligusterhecke. Bei uns auf Sylt ist da schon mehr los. Da laufen Augstein, Menge, Hajo Friedrichs, die ganze Journaille im Sommer vor der Buhne sechzehn ohne Hosen rum. Das heißt, Augstein behält als Einziger die Shorts an.«
    Die dunklen Wolken waren über sie hinweggezogen. Aber erst jetzt, als die Sonne schon wieder herauskam, fing es an zu tröpfeln.
    »Ich muss mal weitermachen«, sagte Kieso. »Aber du kommst heute Abend? Versprochen?«
     
    Trotz des leichten Gegenwindes fegte Harry den

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