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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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zweites hinterher. Die Geräuschkulisse in der Mühle bestand aus gedämpftem Gemurmel und norddeutscher Folklore mit Gitarre und Panflöte, wie es das Fernsehen als Untermalung für Heimatkundliches benutzte.
    Es waren bestimmt vierzig Leute zu Kiesos Vernissage gekommen. Keine Sylter Galerieschnösel, sondern ein paar Amrumer Ferienhausbesitzer. Eine für diese Jahreszeit noch erstaunlich braun gebrannte Mittfünfzigerin, die zu ihren engen Jeans nur einen ausgeschnittenen kamelhaarfarbenen Kaschmirpullover und eine auffällige Goldkette trug, prostete Kieso mit dem Sektglas zu. Vor allem aber waren es Herbsturlauber, die sich für zu Hause eine Erinnerung mitnehmen wollten. Pensionäre in unförmigen Karottenjeans, mittelalte Volkshochschulbesucherinnen in gewalkten Lodenjacken und Kunstlehrerinnentypen mit hennaroten Dauerwellen und Lesebrille an einer Kette.
    Auch die Frau mit der blonden Afromähne, die Harry frühmorgens gegenüber aus seinem Fenster beobachtet hatte, war da. Sie trug ein Oberteil mit nur einem Träger, das eine Schulter frei ließ. Sie wiegte sich gelangweilt zu dem maritimen Panflötengesäusel. Ein schlaksiger Rentner in einer viel zu weiten Wolljacke begutachtete die Bilder aus wenigen Zentimetern Abstand, eines nach dem anderen. Dabei musste er sich wegen seiner Größe etwas bücken und gleichzeitig |86| wegen seiner halben Lesebrille in einer vogelartigen Verrenkung den Kopf in den Nacken werfen.
    Kieseritzkys, das heißt vielmehr Boy Jensens Ausstellung in der Nebeler Mühle bestand sicher aus fünfzig Bildern. Ein paar reichlich konventionelle Strandaquarelle, die dann auch noch ›Odde im Abendlicht‹ oder ›Wattläufer‹ hießen. Mindestens ein Dutzend rotweiß gestreifte Leuchttürme, in Wittdün, in Hörnum, List, Wyk oder sonst wo. Tuschezeichnungen, die anschließend hübsch koloriert waren, und zweimal Meeresbrandung, kleinformatig, in effektheischend dick gespachteltem Öl. Dagegen waren die Noldes, die Harry in seinem Kleiderschrank unter Verschluss hatte, die reine Avantgarde.
    Ausgerechnet auf den schlechteren Bildern klebten schon rote Punkte. Fast die Hälfte von Boy Jensens ›Meeresimpressionen‹ waren offensichtlich verkauft.
    »Harry, ich weiß, es sind keine Noldes. Aber du siehst ja selbst.«
    Bei dem Namen »Nolde« durchfuhr es Harry wie bei einem Stromschlag, aber er war bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.
    »Es ist auch etwas ganz anderes als deine Käse-Installation in der Admiralitätsstraße«, sagte Harry. Aber er merkte selbst, dass sein Grinsen dabei misslang.
    »Hast du gehört, in Seebüll sind mehrere Noldes geklaut worden. Vorgestern, glaube ich. Das wär was – ein paar Nolde-Bilder zu besitzen! Die sind was wert.«
    Bildete sich Harry das nur ein oder hatte Kieso ihn dabei tatsächlich vielsagend angeguckt?
    »Wunderschön, wie Sie die Stimmung hier an der |87| Nordsee wieder getroffen haben«, sagte eine grauhaarige Frau mit freundlichem Lächeln in einem selbst gestrickten Wollpullover.
    »Vielen Dank«, sagte Kieseritzky alias Boy Jensen, der auch hier drinnen seine Schiffermütze aufbehalten hatte. »Haben Sie sich denn schon etwas Hübsches ausgesucht?«
    »Was meinen Sie wohl? Das ›Friesenhaus im Schnee‹! Die Nummer dreiundzwanzig.«
    »Gute Wahl. Das hätte ich eigentlich selbst gern behalten«, schleimte Kieso und lachte künstlich. Harry war das unangenehm.
    »Die Nordsee im Winter«, sagte die Grauhaarige, »das ist ja sowieso ein Geheimtipp.«
    Kieso war blendender Laune. Die vielen roten Punkte auf seinen Bildern hatten ihn schon ziemlich angeturnt und vor allem dann ein unauffällig gedrehter Joint, von dem er Harry ein paar Züge abgab. Mit großer Geste spielte Kieseritzky hier den Künstler und weit gereisten Weltenbummler von der Waterkant. Lautstark schwärmte er den Handarbeitslehrerinnen von Schiffspartien und Künstlerjahren in der Südsee vor, von einmalig schönen Leuchttürmen in Australien.
    »Von schlichter Schönheit. Ganz einfach nur ein weißer Turm, umspült von der Brandung«, schwelgte Kieso pathetisch und strich sich selbstverliebt durch seinen albernen Bart.
    Ist ja wirklich widerlich, dachte Harry.
    Kieseritzky stellte ihn allen möglichen Leuten als seinen Hamburger Malerfreund vor und versuchte, ihn |88| ins Gespräch zu bringen. Harry war das zunächst unangenehm. Vor allem hatte er auch Angst, Kieso könnte seinen Nachnamen nennen. Denn seit gestern Morgen hieß er nicht mehr Oldenburg, sondern

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