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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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macht schon etwas aus. Die Sommernächte sind hier schon deutlich kürzer als in Hamburg.«
    Von der Strandbar kann man aufs Meer sehen. Das Wasser glitzert sommerlich zwischen den zahlreichen Strandkörben hindurch. Im Gegenlicht machen ein paar Surfer ihre Wenden. Der Leuchtturm drüben in Hörnum auf Sylt wirkt ganz nah. Familien mit kleinen Kindern schlurfen mit von der Sonne und der Meerluft geröteten Gesichtern und vollgepackt mit bunten Schaufeln und Plastikspielzeug erschöpft über den Sand dem Aufgang nach Norddorf zu. Ein Strandkorbwärter scherzt mit zwei Rentnerinnen, die ein Enkelkind an der Hand halten.
    »Entspann dich, Harry, bitte«, sagt Zoe. Bereits zwei Stunden nach ihrer Ankunft sieht sie aus wie eine Amrumer Ferienhausbesitzerin in ihrem grau-grün gestreiften Sweatshirt, den rot lackierten Fingernägeln und den Segeltuchschuhen mit Lederschnürbändern, die sie bei Mark’s, dem kleinen Klamottenladen in Annapolis, gekauft hat. Sie hat ihre Brille ins Haar geschoben und küsst Harry auf den Mund. Dabei blinzelt sie in die Sonne.
    Harry ist tatsächlich unruhig. Am liebsten will er heute alles gleichzeitig machen: Baden, mit dem Rad ganz Amrum abfahren, Austern sammeln und vor allem nachsehen, ob die Pension »Nordseeperle« noch existiert.
    »Lass uns erst mal ankommen.« Zoe ist fest entschlossen, |77| den Amrumaufenthalt und sowieso die ganze Deutschlandreise als Urlaub zu genießen.
    Der Umgang mit Bildern, mit echten und vor allem mit gefälschten, war seit vielen Jahren fast zum Beruf geworden. In spektakulären Coups hatten sie einige Bilder geklaut. Zwei Diebstähle hatten sie zusammen durchgezogen. Und sie hatten sich, als sie in Südfrankreich nachts gemeinsam in das Picasso-Museum eingestiegen waren, gegenseitig bewundert für ihre Unbekümmertheit und Extravaganz. Ein bisschen wie Cary Grant und Grace Kelly in ›Über den Dächern von Nizza‹ waren sie sich vorgekommen.
    Zugegeben. Es war schon frech gewesen, einfach in das »Château Grimaldi« in Antibes einzubrechen, wo auf engstem Raum die wunderbarsten Picassos hängen. Aber Harry war mittlerweile professioneller geworden. Solche Anfängerfehler wie in Seebüll unterliefen ihm nicht mehr. Er hatte sich intensiver mit Alarmanlagen beschäftigt. Er wusste, welche Bilder man klauen konnte und von welchen man lieber die Finger ließ. Er kannte inzwischen fanatische Kunstsammler und Hehler, die von Kunst keine Ahnung hatten. Er hatte schlampiges Museumspersonal und diskrete Versicherungsleute schätzen gelernt, die für die gestohlenen Objekte erstaunliche Lösegelder zahlten. »Belohnung für Hinweise zur Wiederbeschaffung«, wie sie das so schön nannten.
    Zoes Vater, der Harry wie einen Sohn angenommen hatte, führte sie beide in seiner versteckten New Yorker Hinterhofgalerie in die Geheimnisse des illegalen Kunsthandels ein. Von ihrer Karriere als Kunstdiebe |78| war er allerdings überhaupt nicht begeistert. Deshalb hatten sie sich wohl auch europäische Museen ausgesucht. Außerdem waren sie danach schneller wieder aus der Schusslinie. Zurück in den USA glaubten sie sich sicher vor der französischen oder der italienischen Polizei. Und für internationale Ermittlungen waren ihre Diebstähle nicht spektakulär genug. So waren sie bei ihrem Grundsatz geblieben: Niemals allzu berühmte Bilder klauen, die jeder kennt und deshalb schwer verkäuflich sind. Im Picasso-Museum hatten sie sich mit einem Flöte spielenden Faun und einem Keramikteller begnügt.
    So war bisher alles reibungslos gelaufen, und Harry und Zoe verlebten eine glückliche Zeit. Vielleicht ist Kunstraub ja die ideale Basis für eine glückliche Ehe. Nach Tippis Geburt hatte Harry sich dann allerdings mehr auf den Handel mit nicht immer echten Bildern verlegt. Das war ein florierendes Geschäft, das ihn zunächst selbst überraschte. Dass rund die Hälfte der im Handel erhältlichen Kunst und auch beträchtliche Teile der Museumsbestände von Experten als Fälschungen eingeschätzt werden, wusste er damals noch nicht.
    Die kleine Galerie in der Nähe von Annapolis diente zunächst nur als Tarnung. Das eigentliche Geschäft machten sie mit Fälschungen und geklauter »klassischer Moderne«. Aber inzwischen hatte der legale Kunsthandel immer mehr die Oberhand gewonnen. Vor allem lokale Künstler aus der Chesapeake Area und aus Washington stellten bei ihnen aus, aber auch mal ein New Yorker Maler. Dass Harry und Zoe sich ihre Galerie und das beschauliche Leben mit

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