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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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zu werden.
    |82| Das Joggen war mal wieder dran. Aber vor allem treiben ihn die ›Öömrangen‹ aus dem Bett. Er will wenigstens einmal an seiner alten Pension vorbeilaufen. Als er vom Watt in den Fußweg nach Nebel einbiegt, fühlt Harry seinen Puls schneller werden. Und das liegt nicht am Laufen. Eigentlich ist er in Form.
    Zunächst läuft er den falschen Weg. Doch dann hat er das geduckte blutrot gestrichene Reetdachhaus gleich wiedererkannt. Vor der »Nordseeperle« steht ein Lieferwagen. Neben dem Eingang liegt verschiedenes Gerümpel. Sofort hat Harry den riesigen Schrank aus Holzimitat vor Augen und das verblichene Bild über dem Bett. Er glaubt sich jetzt auch an den Titel zu erinnern: ›Öömrang wüfen uun Öömrang‹. Was auch immer das heißen mag.

7
    Als er die Mühle betrat, winkte Kieseritzky ihm sofort zu. Dadurch drehten sich auch die anderen Gäste der Vernissage nach ihm um. Schon wieder fühlte Harry sich so, als würde er eine Bühne betreten: Ja, Leute, ihr seht richtig. Ich bin der Mann, der heute in allen Zeitungen steht, dachte er. Harry Oldenburg alias Heide, der gesuchte Kunstdieb. An seine neue Rolle musste er sich erst gewöhnen.
    Er verdrückte sich in die Garderobe, um seinen nassen Anorak loszuwerden. Es hatte gar nicht stark geregnet auf dem kurzen Weg von der Pension hierher. |83| Aber durch den Wind waren ihm die Regentropfen wieder fast waagerecht entgegengeprasselt, diesmal von rechts. Die linke Seite der Jacke war tatsächlich fast trocken geblieben. Die ist dann auf dem Rückweg dran, dachte Harry.
    Über Tag war es längere Zeit trocken gewesen. Er hatte den Austernsammler in dem Fischerhemd, wie es auch Kieso trug, wieder getroffen und eine Weile mit ihm geredet. Er öffnete Harry eine Auster direkt aus dem Eimer und ließ ihn probieren.
    »Aber verrat bloß nicht, wo ich mit den Muscheln aus dem Watt gekommen bin. Das is mein Geheimnis.« Harry wusste nicht recht, wie ernst das gemeint war.
    Dann war er am Strand gewesen. Er hatte den Noorderstrunwai, den nördlichen Bohlenweg durch die Dünen, genommen, der auch in der Saison weniger begangen wurde und jetzt im Herbst fast gar nicht mehr. Ein Paar in Öljacken und Gummistiefeln war ihm entgegengekommen. Der auf der Höhe von Nebel fast einen Kilometer breite Strand war durch die vielen Regenfälle überschwemmt, eine Seenlandschaft vor dem Meer, aus der ab und zu ein Sandhügel herausguckte, Büschel von Strandgras und schwammige Flechten von Algen. Ohne Gummistiefel, in seinen dunklen Sportschuhen, wurde sein Spaziergang wie der Weg durch ein Labyrinth. Direkt am Meer entlang konnte man wieder auf halbwegs trockenem Sand laufen. Harry hatte darüber nachgedacht, ob er Udo Warncke nicht langsam mal anrufen müsste. Aber so recht hätte er gar nicht gewusst, was er ihm sagen |84| sollte. Den Klau der Noldes wollte er ihm dann doch nicht gleich auf die Nase binden.
    Auf dem Weg zu Kiesos Ausstellung hatte Harry dann noch einen kurzen Abstecher auf den Leuchtturm gemacht. Vor dem Aufgang zu dem auf einer kleinen Anhöhe gelegenen Turm trafer die Kräuterteetrinkerin aus seiner Pension. Silva Scheuermann-Heinrich guckte ihn wieder intensiv durch ihre rot schillernde Brille an. Sie musste unbedingt loswerden, dass sie gerade von einer »Beauty-Massage« kam.
    »Ich hab mir fest vorgenommen, mir etwas Gutes zu tun.« Sie lächelte leicht weggetreten und bemüht lasziv, als plante sie schon die nächste Massage mit Harry zusammen. »Herrlich. Und dann das Aroma der verschiedenen Öle. Das müssen Sie unbedingt auch probieren.«
    Dann machte sie noch eine abfällige Bemerkung über Nordseeurlauber, die sich offensichtlich auf Mutter Wiese und ihren dicken Sohn bezog. Harry flüchtete den Weg zum Leuchtfeuer hinauf. Er stürmte die Steintreppe im unteren Teil und dann oben die Stahlstufen hinauf. Als er auf den umlaufenden Aussichtsbalkon direkt unter den Glasprismen hinaustrat, hörte er hinter sich die Schritte auf den Eisenstufen hallen. Silva Scheuermann-Heinrich war ihm auf den Fersen. Es dämmerte bereits. Der Sonnenuntergang war hinter den etwas helleren Wolkentürmen über dem Meer nur zu erahnen. Von Sylt, Langeneß und von Norddorf warfen die Leuchtfeuer ihre Lichter mit der unterschiedlichen Kennung herüber.
     
    |85| Kieseritzky begrüßte ihn, als wären sie dicke Freunde. Harry bekam gleich ein Sektglas in die Hand gedrückt. Das Zeug war warm und schal. Aber er kippte es trotzdem hastig hinunter und gleich ein

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