Flucht übers Watt
im Magen hinterließ.
|213| »Gar nicht mehr die Marke von Bogart?«, fragte sie mit Blick auf seine »Camel«-Packung.
»Nee, im Supermarkt in Nebel gibt’s keine Chesterfield.«
Sie redeten eine Weile: über Kieseritzkys trauriges Ende, über Künstler auf den Nordseeinseln und übers Auswandern. Anke malte auch selbst, vertraute sie ihm an. »Im surrealistischen Stil, aber irgendwie doch ganz anders«, sagte sie. Zwischendurch versorgte sie die Sprechstundenhilfe mit Piña Coladas und die Holzfällerjungs mit Whisky. Dazu gab sie immer eine kurze launige Einführung zur jeweiligen Sorte. Als Harry vom Klo zurückkam, hörte er von Weitem ihr fettes gutturales Lachen.
Harry winkte ab, als sie ihm den dritten Whisky hinstellte. Es betäubte zwar seine Erkältungssymptome, aber er hatte genug.
»Vom Haus«, sagte sie. »Glenlivet. Soll ein bisschen nach Vanille schmecken. Malzig und langer warmer Abgang.« Sie warf sich ihre Haare aus dem Gesicht und prostete Harry mit einem Glas Bacardi-Cola zu.
Statt ›Creedence Clearwater Revival‹ spielten inzwischen die Stones. Nach einem weiteren Glenkindie oder so ähnlich rüsteten sich die Jungs und die Sprechstundenhilfe zum Aufbruch. Anke fragte Harry, ob er nicht Lust hätte, sich noch ein paar ihrer Bilder anzugucken – bei ihr zu Hause. »Du weißt ja, wo das ist«, grinste sie.
Als er vom Barhocker aufstand, musste er sich am Tresen festhalten. Die Flecken des Leopardenmusters |214| auf Wilmas Shirt begannen für einen Moment leicht zu flirren und die Stones spielten ›Let’s Spend the Night Together‹.
Mann, Mann, dachte Harry, reichlich peinliche Nummer. Aber das Steinzeitshirt war heute Abend nicht ohne Wirkung auf ihn geblieben. Insbesondere wie sie sich mit den perlmuttfarben lackierten Fingern die blonde Mähne von der nackten Schulter fegte. Oder lag es nur am Whisky?
»Sollen wir dein Fahrrad hinten reinschmeißen?«, fragte sie. »Ich muss nur die Bank umlegen.«
Sie verstauten Harrys Hollandrad im Kofferraum. Ganz passte es nicht hinein. Die Klappe musste ein Stück offen bleiben.
»Badadadab Damdam Badadam ... «, summte er den Stones-Song in die kühle Nacht und konnte dabei seinen Atem sehen. »Now I need you more than ever ... « Draußen fühlte er sich im Kopf gleich wieder klarer.
Er stieg zu ihr in ihren rostigen R4. Bevor sie den Motor anließ, beugte sie sich wie selbstverständlich zu ihm rüber. Sie strich sich hastig eine Strähne aus dem Gesicht. Dann küssten sie sich. Sie fuhr ihm mit den Fingernägeln über sein Kinn und Ohr. Die Seite tat noch weh, von dem Schlag des Fährmanns. Harry wühlte in ihrem wolligen Haar. Der Kuss dauerte nicht lange. Dann drehte sie sich genauso unvermittelt wieder um und betätigte den Anlasser.
Als Anke mit der R 4-Krückstockschaltung krachend den Rückwärtsgang einlegte, lachte sie ihm kurz zu. Harry sah durch die Frontscheibe, auf der ein paar |215| welke Blätter lagen, und erstarrte. Neben dem Fahrradständer, halb verdeckt durch einen Strauch, stand sie. In ihrem roten Anorak: Silva Scheuermann-Heinrich. Im Schein der Leuchtreklame der Kneipe flammten ihre hennaroten Haare auf. Harry glaubte zu träumen. Deine Fantasie geht mit dir durch, sagte er sich. Jetzt fehlten nur die Putzfrau und der Rest des Shantychors. Aber da stand sie wirklich. Verfolgte sie ihn die ganze Zeit? Hatte sie ihn durch die Fenster der »Blauen Maus« beobachtet, um ihn jetzt abzufangen? Diese Frau war eindeutig verrückt. Oder war er es, der allmählich durchdrehte?
Der Auspuff des Renaults knatterte. Bei jedem Gangwechsel gab es ein Krachen, und gleich darauf machte das Auto einen kleinen Hüpfer. Auf der Inselstraße kam ihnen kein einziger Wagen entgegen. In nur drei oder vier Häusern in Nebel brannte vereinzelt ein Licht. Die »Nordseeperle« war stockdunkel, als sie vom Auto auf das Nachbarhaus zugingen, wo Anke unter dem Dach wohnte. Wer sollte noch auf sein? Die Wirtin sowie Mutter Wiese und ihr dicker Sohn gingen bestimmt früh ins Bett. Und die verrückte Silva war ja schließlich noch auf Achse. Harry fand es gar nicht so verkehrt, statt in seine Pension zu gehen, zumindest vorübergehend erst mal im Nachbarhaus unterzukommen. Aber er musste wohl etwas skeptisch geguckt haben.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Anke.
»Alles klar.«
Nachdem sie die dicke Friesentür leise hinter sich |216| zugedrückt hatte, legte sie den Zeigefinger auf ihre Lippen. »Pssst.« Dann zog sie Harry
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