Flucht übers Watt
Außerdem interessiert Harry natürlich brennend, ob sie vielleicht irgendwann einmal etwas von seinen ›Feriengästen‹ gehört hat. Dass er das Bild seinerzeit auf Amrum zurücklassen musste, hatte er ihr damals nicht erzählt und auch später am Telefon nicht.
Mit dem Schnellboot sind sie in einer knappen halben Stunde in Hörnum. Ganz gleichmäßig gleitet das Schiff am Amrumer Kniepsand entlang. Eine Verbindung, die es damals noch nicht gab. Es herrscht wieder strahlender Sonnenschein. Das Meer schillert wie eine Quecksilberplatte. Auf dem Wasser ist es angenehm, aber sonst ist es erstaunlich heiß. An solche Sommer an der Nordsee kann sich Harry von früher wirklich nicht erinnern. Er muss auf einmal wieder an die dramatischen Szenen auf der »Elsa« zurückdenken.
»Hier irgendwo muss Kieseritzky damals über Bord gegangen sein«, sagt er zu Zoe. »Bei diesem Wetter kann man sich gar nicht vorstellen, was für eine stürmische Nacht das war.« Trotzdem kommt es Harry vor, als sei es gestern gewesen.
Der Anleger in Hörnum wirkt heute größer. Aber er hatte ihn damals auch nur im Dunkeln gesehen. Das Rentnerpaar mit der Kühltasche will auch als Erste |223| wieder von Bord, als die kleine Gangway noch gar nicht angelegt ist. auf Sylt wirkt gleich alles betriebsamer. Schon vom Anleger aus sind ganze Siedlungen mit Eigentumswohnungen zu sehen. Überall hängen Plakate für den Worldcup im Beachpolo. Aber der rote Leuchtturm mit dem breiten weißen Ring in der Mitte, der aus den Dünen herausguckt, ist der alte geblieben.
Die Frau in den weiten weißen Klamotten, die neben dem alten Benz steht, muss Maja sein. Sie winkt Harry zu und kommt ihnen entgegen. Sie ist deutlich älter geworden, denkt er. Aber sie hat immer noch diese strahlenden Augen. Nach einem kurzen Zögern nehmen sie sich in die Arme.
»Verrückt«, sagt sie. »Harry, wie lange ist das her?«
»Achtzehn Jahre.« Er löst die Umarmung und stellt die beiden Frauen einander vor.
»Deine amerikanische Frau. Nice to meet you«, sagt Maja aus Spaß auf Englisch und lacht. Die beiden Frauen geben sich erst die Hand und umarmen sich dann auch etwas unbeholfen.
»Achtzehn Jahre.« Maja schüttelt den Kopf.
Die achtzehn Jahre sind nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Maja ist deutlich in die Breite gegangen. Sie hat jetzt etwas Matronenhaftes, findet Harry. Aber es steht ihr gar nicht so schlecht. Das immer noch dicke ungestüme schwarze Haar ist inzwischen von ein paar grauen Strähnen durchzogen. Sie trägt eine aus verschiedenen Steinen zusammengesetzte Kette und auffällige breite Ohrringe aus matt gebürstetem Gold. An |224| ihren Fingern, denen anzusehen ist, dass sie täglich malt, stecken gleich mehrere Ringe in demselben matten Gold.
Majas alter Benz hat noch einen richtig nagelnden Dieselmotor und durchgesessene Ledersitze. Die Fußmatten sind sandig und übersät mit altem Schokoladenpapier.
»Ich bin ja beruhigt, dass du nicht inzwischen Porsche fährst«, sagt Harry.
»Harry, du hast zu viel versprochen.« Zoe lacht und zeigt ihre vorstehenden Schneidezähne. »Ich wäre so gern mal Porsche gefahren.«
Maja lenkt ihren Benz in dem unmöglichen Bonbonrot auf die Inselstraße. Der Stern auf der Motorhaube zieht majestätisch seinen Weg an der Dünenlandschaft vorbei, hinter denen unzählige Reetdächer hervorgucken.
»Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes-Benz? My friends all drive Porsches, I must make amends ... «, singt Zoe auf dem Rücksitz eine Strophe des alten Janis-Joplin-Songs.
Maja dreht sich zu ihr um und strahlt. »Na, immerhin Benz.«
An den Strandaufgängen parken Autos, keine Sportwagen wie früher, sondern penibel geputzte schwarze Geländewagen, deren einziger Off-Road-Einsatz bei der Autoverladung nach Westerland stattfindet.
»Die Dinger nennen sie hier Sylt-Mantas«, sagt Maja. »Tja, es hat sich eine ganze Menge verändert in den achtzehn Jahren.«
»Auf Amrum zum Glück nicht, habe ich den Eindruck |225| «, sagt Harry. »Die Kinder sammeln immer noch begeistert Muscheln, und Heimatdichter Quedens hält immer noch seine Dia-Vorträge über die Nordsee. Alles noch genauso wie in meiner Kindheit. Das ist doch beruhigend.«
»Ja, da könntest du recht haben. Ich war ewig nicht da. Ich komm so selten auf die anderen Inseln.«
Sie fahren an Puan Klent vorbei, dem Schullandheim, wo Harry als Dreizehnjähriger auf Klassenreise war, wo sie auf dem Rasenplatz mit Meerblick Fußball gespielt und danach in dem
Weitere Kostenlose Bücher