Flucht übers Watt
aus seiner Hose herauszog.
»Was ist los mit dir?«
»Ich weiß auch nicht. Diese Musik macht mich irgendwie müde.« Harry hatte Kopfschmerzen. Die Erkältung war wieder voll da. Die Räucherstäbchen brannten in Augen und Nase. Aber vor allem ging ihm Silva Scheuermanns Erscheinen eben vor der Kneipe nicht aus dem Kopf. Wahrscheinlich lauerte sie jetzt gegenüber.
Anke verschwand durch den Perlenvorhang im Bad. Er hörte die Klospülung. Nach einer Weile kam sie in einem gestreiften Herrenbademantel zurück. Den hatte wahrscheinlich ein Liebhaber irgendwann zurückgelassen.
»Hoffentlich hab ich dich nicht mit meiner Erkältung angesteckt«, sagte er.
»Ach was. Whisky desinfiziert.« Sie lächelte. Doch das sah jetzt auch deutlich müder aus.
Sie nahm die verunglückte Liebesnacht aber scheinbar locker. Wahrscheinlich nichts Besonderes für sie, wenn sie besoffene Typen aus der »Blauen Maus« abschleppte, überlegte Harry und fühlte sich dabei noch schlechter als ohnehin schon.
»Du siehst wirklich nicht gut aus«, sagte Anke und kam hinter dem klimpernden Vorhang mit einem Fläschchen zurück, auf dessen buntem Etikett die nächste indische Göttin im Schneidersitz saß.
»Meinst du wirklich?«, versuchte er vorsichtig zu protestieren.
»Das tut dir gut.« Sie träufelte sich das Öl in ihre |220| Handflächen. Es roch nach Eukalyptus, nach Nelken und ein bisschen auch wieder nach Patchouli. Oder waren das die Räucherstäbchen?
Die ätherischen Öle, die Anke ihm mit ihren Perlmuttfingern auf Brust und Rücken verteilte, taten wirklich gut. Und sie brachten die beiden wider Erwarten dann doch noch mal richtig in Schwung. Wahrscheinlich lag es auch daran, dass der Ghettoblaster mit der Meditationsmusik endlich Ruhe gab.
Als Harry mitten in der Nacht aufwachte, hatte er keine Ahnung, wie spät es war. Eine Uhr konnte er nirgends entdecken. Anke schliefin eine der vielen roten Decken gehüllt. Eine dicke Strähne hing ihr ins Gesicht. Draußen war es noch dunkel, als er aus dem Gaubenfenster guckte. Die »Nordseeperle« gegenüber kam ihm im Mondlicht ganz nah vor. Ein Wolkenschatten zog über das Reetdach. Die Fenster waren alle dunkel. Überall waren die Vorhänge zugezogen. Nur in seinem Zimmer nicht. Er zündete sich eine Camel »ohne« an und sah aus dem Fenster. Das Watt war von hier nicht zu sehen. An Meret Boysens Pension vorbei sah man weitere Reetdachhäuser und dahinter über die Wiesen.
Das Gaubenfenster neben seinem in der »Nordseeperle« musste zu dem Zimmer von Silva Scheuermann gehören. Hatte sich dort eben die Gardine bewegt? Als er gerade nicht richtig hingesehen hatte? Das konnte doch nicht sein, dass diese Wahnsinnige die ganze Nacht hinter dem Vorhang stand und zu ihnen herüberguckte. Doch: Da bewegte sich der Stoff der Gardine wieder. Er hatte es deutlich gesehen. Da war |221| er sich ganz sicher. Der Wind konnte das nicht sein. Das Fenster war geschlossen. Diese Scheuermann musste er irgendwie loswerden. Er drückte die Zigarette in der Buddhafigur aus. Er fühlte sich jetzt richtig fiebrig.
18
Das Boot hat noch gar nicht angelegt, schon geht ein Schieben und Drängeln durch die kleine Gruppe von Ausflüglern, die an der Mole in Wittdün wartet. Die Leute rücken sich gegenseitig auf die Pelle. In den Sonnenölduft mischt sich dezenter Schweißgeruch. Ein Rentnerpaar mit hektischem Blick in hellgrauen Windjacken, die unbedingt als Erste aufs Boot müssen, stößt Zoe seine monströse Kühltasche in die Knie.
»Be careful! Please!« Zoe sagt das bewusst auf Englisch. Um den beiden das Gefühl zu geben, sie seien doofe Deutsche, glaubt Harry. Sie sagt das harsch und arrogant. Aber als Harry sich zu ihr umdreht, muss sie sich das Grinsen verkneifen. Er macht sich den Spaß, dem Mann den Weg zu versperren, worauf die Frau sich nervös umdreht. Nach kurzem Zögern drängelt sie trotzdem weiter vorwärts.
»Am liebsten würden sie schon ins Wasser springen, bevor das Boot überhaupt da ist«, sagt Zoe und Harry lacht.
Die beiden wollen Maja besuchen, die immer noch auf Sylt lebt. Sie haben in all den Jahren den Kontakt |222| gehalten. Sie hatten beruflich miteinander zu tun. Maja hatte Harry zwei sehr hübsche Mackes und mehrere Matisse-Grafiken geschickt, die sich auf dem amerikanischen Markt weit weniger riskant verkaufen ließen als in Europa.
Maja ist auf deutschen Expressionismus spezialisiert, vor allem ›Blauer Reiter‹. Aber malte sie auch noch eigene Sachen?
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