Flucht übers Watt
zu sich heran, und sie küssten sich in dem dunklen Flur. Aber so ganz war er nicht bei der Sache. Er musste dauernd an diese besessene Scheuermann-Heinrich denken, die ihm auf den Fersen war.
In dem engen Appartement unter dem Dach roch es muffig. Es war eine Mischung aus dezentem Schimmel und Patchouli. Wilma Feuerstein wohnte tatsächlich in einer Art Höhle. In dem kleinen Raum mit den schrägen Wänden konnte man sich kaum bewegen. Er war völlig zugestellt mit einem großen Bett, einem sperrigen Sessel aus Bambusrohr und einem Sofa, auf dem eine Häkeldecke und irgendwie fernöstlich gemusterte Kissen lagen. Hinter einem Perlenvorhang gab es eine kleine Kochnische und gegenüber eine Tür, die offensichtlich ins Bad führte.
An den schrägen Wänden hingen Poster, die auch noch mal schräg angepinnt waren: ein Foto von einem Palmenstrand und über dem Bett das naive Gemälde einer indischen Göttin, die inmitten weißer Kühe Sitar spielte. Zu der vergilbten Blümchentapete passte das alles nicht recht. Aber das störte nicht weiter, man konnte sowieso kaum etwas erkennen. Einzige Lichtquelle war eine Nachttischlampe, ein Plexiglaszylinder, in dem zwei getrennte Flüssigkeiten, weiß und grellrot, langsam vor sich hin waberten, sodass sich das Licht in dem Raum ständig veränderte. Überall lagen und hingen netzartige Decken. Gleich nachdem sie sich aus ihrer Lederjacke herausgepellt hatte, zündete Anke Räucherstäbchen an und legte eine Kassette |217| mit einer Art sphärischer Meditationsmusik in einen Ghettoblaster ein.
Ein kleines Bombay unter Reet, dachte Harry und zündete sich eine Zigarette an, als Gegenmittel gegen die Räucherstäbchen, die in zwei kleinen Buddhafiguren steckten und dort vor sich hin kokelten.
»Ich hab einen wahnsinnig tollen Mangolikör«, sagte sie. »Magst du so etwas?« Sie warf sich die Haare über die Schulter.
»Mangolikör?« Harry zögerte einen Moment. Er hing so tiefin dem Sofa, dass er sich kaum zu ihr umdrehen konnte. Mangolikör wollte er auf keinen Fall. Aber da hatte er schon ein Glas in der Hand.
»Willst du meine Bilder wirklich noch sehen?« Sie kniete sich auf das Sofa und grinste doppeldeutig.
»Ach so, klar, deine Bilder.« Harry roch an dem Glas mit dem Likör.
»Ach so, jaja«, wiederholte sie und lachte demonstrativ.
Sie nahm ihm das Glas aus der Hand, beugte sich über ihn und küsste ihn. Ihr Haar roch pudrig, und aus dem Kassettenrekorder säuselte unermüdlich der meditative Synthi-Sound.
»Die Musik eben in der ›Blauen Maus‹ fand ich nicht unbedingt schlechter«, gab Harry zu bedenken.
Der beißende Patchouligeruch brannte ihm in der Nase trotz seines Schnupfens. Bei Patchouli wurde er immer sofort von traumatischen Kindheitserinnerungen an die Wohngemeinschaft seiner Mutter bedrängt, kurz bevor sie sich damals nach Poona abgesetzt hatte. An das dunkle, muffig-süßlich stinkende Zimmer, vor |218| dessen Fenstern alle fünf Minuten eine U-Bahn vorbeidonnerte. Es stellten sich flüchtige Bilder ihrer ständig wechselnden Liebhaber ein, die er mit Vornamen anreden musste und die penetrant den Kumpel spielten. Und beim Kiffen in der braun gestrichenen Küche prahlte seine Mutter dann mit peinlicher Regelmäßigkeit, dass sie zu »Starclub«-Zeiten für eine Nacht mal was mit John Lennon gehabt hatte. Das hatte Harry ihr schon als Neunjähriger nicht geglaubt. Ringo vielleicht, aber nicht John Lennon. Niemals.
»Komm, du musst locker werden.« Anke zog sich ihr Leopardenshirt über den Kopf und kniete jetzt mit nackten Brüsten neben ihm.
»Du bist total verspannt.« Energisch zupfte sie an seinem schwarzen Rollkragenpullover und zog Harry, während er den Pulli abstreifte, mit hinüber auf das Bett.
Die psychedelische Lampe warfrote Blasen auf ihre Haut und auch auf die schräg hängende indische Göttin. Er berührte mit seiner Zunge ihre kleinen festen Brüste. Dabei atmete sie heftig und krallte ihm ihre Fingernägel in den Rücken, dass er Striemen bekam. Sie fasste ihm in die Jeans. Auf der Entspannungskassette begann ein neues Stück, das von dem vorigen nicht zu unterscheiden war. Auch er zwängte sich mit seiner Hand in ihre enge Hose. Aber mehr passierte dann auch nicht. Die Sitar spielende Göttin und die psychedelische Lampe neben dem Bett lenkten ihn ab. Fasziniert musste er immer wieder das Spiel der beiden öligen Flüssigkeiten in dem Plexiglas beobachten, |219| während Anke mit geschlossenen Augen ihre Finger wieder
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