Flüchtig!
Tageszeit vermerkt.
Aber kurz danach wurden diese neuen Studien wieder verdrängt durch Berichte über Arbeiten mit tödlich giftigen Pilzen, Fingerhut und Dieffenbachia. In einem Abschnitt betonte er hämisch die neurotoxischen Qualitäten der letzteren, wobei er in einer Fußnote den populären Namen der Pflanze, Stummholz, mit ihrer Eigenschaft, die Stimmbänder zu lähmen, in Beziehung setzte.
Der Wechsel zwischen seinen Mutationsstudien und der Arbeit an der neuen Annona setzte sich im Lauf des dreizehnten Bandes bis zum fünfzehnten fort.
In Band sechzehn wurden die Notizen wieder etwas optimistischer, als Swope sich über die Schöpfung einer ›neuen Kulturvarietät‹ ausließ. Dann, so plötzlich, wie sie aufgetaucht war, wurde a. zingiber wieder fallengelassen mit der Bemerkung: ›Zeigt zwar robustes Wachstumspotential, ihr fehlt jedoch jeglicher sonstiger Nutzens‹. Ich quälte meine schmerzenden Augen noch durch weitere hundert Seiten dieses Dokuments des Wahnsinns, dann legte ich den letzten Band beiseite.
Die Bibliothek enthielt mehrere Bücher über seltene Früchte, darunter einige wunderschöne, in Asien veröffentlichte Ausgaben. Ich sah sie alle durch, fand aber nirgends einen Hinweis auf annona zingiber. Dann suchte ich in den Regalen nach brauchbaren Nachschlagewerken und zog zuletzt einen dicken Band mit Eselsohren heraus, der den Titel Botanische Systematik trug.
Die Antwort stand am Ende dieses Lexikons der botanischen Begriffe. Es dauerte eine Weile, bis ich die volle Bedeutung dessen begriff, was ich soeben gelesen hatte. Eine unaussprechliche Folgerung, aber auf erschreckende Weise logisch.
Als ich es allmählich kapierte, ergriff mich eine heftige Klaustrophobie, und zugleich versteifte ich mich vor innerer Spannung. Schweiß lief mir über den Rücken. Mein Herz schlug heftig, meine Atmung hatte sich beschleunigt. Dieser Raum, dieses Haus, dieses Grundstück war ein Ort des Bösen, und ich mußte hinaus, mußte fort von hier.
In hektischer Eile packte ich mehrere der Loseblatthefter in einen Karton, trug ihn und mein Werkzeug hinunter, schob die Schiffsleiter nach oben, schloß die Schranktür und lief auf den Treppenabsatz hinaus.
Schwer beladen taumelte ich die Treppe hinunter und ließ den kalten Wohnraum mit vier langen Schritten hinter mir.
Nachdem ich eine Weile mit dem Riegel herumgefummelt hatte, gelang es mir, die vordere Haustür zu öffnen. Anschließend stand ich auf der halbverfallenen Veranda, bis ich wieder halbwegs normal atmete.
Stille schlug mir entgegen. Nie zuvor hatte ich mich so verlassen und einsam gefühlt.
Ohne mich umzudrehen, machte ich mich auf die Flucht.
22
Wie alle anderen hatte ich Raouls Überzeugung, daß Woody Swope von den Sektenmitgliedern entführt worden sei, als unwahrscheinlich abgetan. Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher.
Ich hatte keine mißgestalteten Pflanzen in den Gärten der ›Zuflucht‹ gesehen, und das bedeutete, daß Matthias log, wenn er behauptete, den Swopes Sämereien abgekauft zu haben. Oberflächlich betrachtet eine alberne Lüge, die nichts bezweckte. Aber notorische Lügner durchsetzten ihre Geschichten häufig mit Halbwahrheiten, um sie näher an der Wirklichkeit zu halten. Hatte der Guru eine nebensächliche Verbindung zwischen seiner Gruppe und der Familie Swope erfunden, um damit einer tiefergehende Beziehung zu verschleiern?
Diese offensichtliche Lüge wollte mir nicht aus dem Kopf gehen, vor allem im Zusammenhang mit meinem ersten Besuch der ›Zuflucht‹, der mir im Rückblick verdächtig gut organisiert erschien. Matthias war allzu entgegenkommend gewesen, was mein Eindringen dort betraf, zu nachgiebig und zu kooperativ. Für eine Gruppe, die mir als äußerst zurückgezogen beschrieben worden war, schienen mir die Berührer überraschend aufgeschlossen gegenüber einem Fremden, der obendrein noch erklärte, ihnen auf die Finger schauen zu wollen.
Hatte die großzügige Aufnahme bedeutet, daß es bei ihnen nichts zu verbergen gab? Oder war ihr Geheimnis so gut versteckt, daß sie eine Entdeckung nicht zu befürchten brauchten?
Ich dachte an Woody und leistete mir den Luxus einer immer unwahrscheinlicher werdenden Hoffnung: daß der Junge vielleicht doch noch am Leben war und gerettet werden konnte. Aber wie lange noch?
Sein Körper war ein biochemisches Minenfeld, das jeden Augenblick hochgehen konnte.
Wenn Matthias und seine Sekte den Jungen irgendwo auf ihrem Besitz versteckt hielten, war eine
Weitere Kostenlose Bücher