Flüchtig!
ist es bei den Swopes nicht nach diesem Schema gelaufen. Sie waren immer noch fest entschlossen, den Jungen mitzunehmen.
Ich habe es ihnen auf einer Tafel klargemacht. Habe ihnen die Überlebenschancen dargelegt - die einundachtzig Prozent, die ich dir vorhin genannt habe für den Fall, daß die Krankheit noch im lokalisierbaren Stadium ist. Wenn sich der Tumor ausgebreitet hat, sinkt die Chance auf unter fünfzig Prozent, versuchte ich ihnen zu erklären. Es beeindruckte sie überhaupt nicht. Ich sagte ihnen, daß schnelles Eingreifen das Wichtigste sei. Ich habe meinen ganzen Charme aufgewendet, bin ihnen ums Maul gegangen, habe gebettelt und gebrüllt. Sie hatten nicht einmal irgendwelche Einwände, sondern zogen einfach ihre Genehmigung zur Behandlung zurück. Sie wollen ihn mit nach Hause nehmen.«
Er zerriß ein Brötchen und ordnete die Stücke in einem Halbrund auf seinem Teller.
»Ich bestelle mir Eier«, verkündete er.
Dazu winkte er die Bedienung zurück. Sie nahm die Bestellung entgegen und schaute mich hinter seinem Rücken an mit einem Blick, der sagte: Das kenne ich schon.
»Hast du eine Theorie dafür, was diese Meinungsänderung verursacht haben könnte?« fragte ich.
»Zwei. Die eine, daß Augie Valcroix Quatsch gemacht hat; und die andere, daß die verdammten Berührer den Eltern den Kopf verdreht haben.«
»Wer?«
»Die Berührer. So nenne ich sie. Mitglieder einer Sekte, die ihren Hauptsitz in der Nähe des Wohnorts der Eltern hat. Sie verehren einen Guru namens ›der Edle Matthias‹ - das hat mir unsere Sozialarbeiterin gesagt - und nennen sich ›Berührung‹.« Raouls Stimme klang verächtlich. »Madre de Dios, Alex, dieses Kalifornien ist zu einer Deponie für den psychischen Müll dieser Erde verkommen!«
»Sind diese ›Berührer‹ denn von der Ganzheitstheorie besessen?«
»Die Sozialarbeiterin hält es zumindest für denkbar - kein Wunder, was? Arschlöcher sind sie, nichts weiter. Kurieren Krankheiten mit Karotten und Kleie und stinkenden Kräutern, die sie sich um Mitternacht über die Schultern werfen. Der Gipfel nach Jahrhunderten wissenschaftlicher Errungenschaften - freiwilliger kultureller Rückschritt!«
»Was haben diese Berührer den Eltern gesagt? Weißt du das?«
»Ich kann natürlich nichts beweisen. Aber ich weiß, daß zunächst alles glatt gelaufen ist und die Einverständniserklärung bereits unterschrieben war. Dann haben zwei von ihnen - ein Mann und eine Frau - die Eltern besucht, und nun haben wir die Bescherung.«
Die Bedienung brachte einen Teller voll Rührei und eine Schüssel mit einer gelber Sauce. Ich erinnerte mich daran, daß er Sauce Hollandaise besonders liebte. Jetzt goß er die Sauce über die Eier und teilte den Berg in drei Abschnitte. Zuerst aß er das mittlere Segment, dann das rechte und zuletzt das linke. Danach wieder das Lippenabtupfen, das Zupfen im Bart nach nicht vorhandenen Krümeln.
»Und was hat dein Forschungsstipendiat damit zu tun?«
»Valcroix? Wahrscheinlich eine Menge. Laß mich dir erst einmal diesen Typ schildern. Nach der Papierform ein fabelhafter Bursche:
Doktorat an der McGill - er ist Französisch-Kanadier -, dann Praktikum und Arbeit an der Mayoklinik, anschließend ein Jahr Forschungsarbeit an der Universität von Michigan. Er ist knapp vierzig, also älter als die meisten in seiner Position, daher glaubte ich, daß er ein reifer Mensch sei. Denkste! Als ich bei der Einstellung mit ihm sprach, hielt ich ihn für einen gebildeten, intelligenten Mann. Sechs Monate später hatte er sich als alterndes Blumenkind entpuppt.
Sicher, er ist nicht dumm, aber völlig unprofessionell. Er redet und kleidet sich wie ein Halbwüchsiger und versucht dabei ständig, sich auf die Ebene der Patienten zu begeben. Die Eltern können sich nicht auf ihn verlassen, und manchmal durchschauen ihn sogar die Kinder. Aber das sind noch nicht alle Probleme. Er hat meines Wissens mindestens mit einer Mutter eines Patienten geschlafen, und ich bin sicher, es gibt noch mehrere ähnliche Fälle. Ich hab’ ihn daraufhin zur Rede gestellt, und er hat mich angeschaut, als ob ich verrückt wäre, wenn ich darüber auch nur ein Wort verliere.«
»Ein bißchen locker in Sachen Moral?«
»Er hat gar keine Moral. Manchmal bin ich sicher, daß er betrunken ist oder etwas genommen hat, aber ich kann es ihm natürlich nicht nachweisen. Er ist vorbereitet und hat immer die richtige Antwort parat. Trotzdem, dieser Mann ist kein richtiger Doktor,
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