Flüchtig!
konnte ich mich auf das konzentrieren, was getan werden mußte. Hätte ich die ganze Sache klinisch betrachtet, als Psychologe, wäre es mir sicher schon früher klargeworden.
Ich war schließlich ausgebildet worden in der Kunst der Psychotherapie, bei der die Vergangenheit ausgegraben und aufgedeckt wurde, damit man die gegenwärtigen Probleme entwirren und zu einem halbwegs erträglichen Leben finden konnte. Im Grunde nichts anderes als eine besondere Art von Detektivarbeit, bei der man heimlich durch die Sackgassen des Unbewußten schleichen mußte. Und alles begann damit, daß man sich intensiv und ausführlich um die Geschichte des Patienten bemühte.
Vier Menschen waren eines unnatürlichen Todes gestorben. Wenn diese Todesfälle für den Betrachter ein Durcheinander aus beziehungslosen Schreckenstaten darstellten, dann nur deshalb, weil ihm die Geschichte, die dahinterstand, fehlte. Weil er der Vergangenheit nicht den nötigen Respekt gezollt hatte.
Das mußte so schnell wie möglich geändert werden. Es war schließlich mehr als eine akademische Übung. Noch standen weitere Menschenleben auf dem Spiel.
Ich weigerte mich, die Chancen auszurechnen, nach denen die Swope-Kinder noch lebten und rechtzeitig gefunden werden konnten. Vorläufig reichte es, wenn man sich sagte, daß sie immerhin größer als Null waren. Zum hundertsten Mal sah ich den Jungen vor mir, sah ihn in seiner Plastikzelle, hilflos, von anderen abhängig, möglicherweise heilbar, aber mit einer gefährlichen Zeitbombe in seinem kleinen Körper… Er mußte gefunden werden, sonst würde er unter großen Schmerzen sterben.
Wütend über meine Hilflosigkeit, kam ich von der Nächstenliebe zum Selbsterhaltungstrieb. Milo hatte mich beschworen, vorsichtig zu sein, aber einfach stillzusitzen war möglicherweise das gefährlichste.
Jemand war hinter mir her. Früher oder später mußte ihm zu Ohren kommen, daß ich noch lebte. Der Jäger würde die Spur seiner Beute wieder aufnehmen, würde sich diesmal vielleicht noch mehr Zeit lassen, um einen todsicheren Plan auszuarbeiten. Dieses Spiel des Wartens und Planens mußte ich durchkreuzen, wenn ich nicht wie ein Todeskandidat in einer Todeszelle leben wollte.
Es gab viel zu tun, zu erforschen und auszugraben. Die Kompaßnadel zeigte nach Süden.
19
Jemandem vertrauen heißt das größtmögliche aller Risiken eingehen. Aber ohne gegenseitiges Vertrauen läuft gar nichts.
Die Frage an diesem Punkt lautete allerdings nicht, ob ich ein solches Risiko eingehen sollte oder nicht. Es handelte sich vielmehr darum, wem ich trauen konnte und wem nicht.
Natürlich durfte ich Del Hardy trauen, aber ich konnte mir nicht denken, daß er oder die Polizei im allgemeinen in der Lage waren, mir zu helfen. Das waren Profis, bei denen nur Fakten zählten. Was ich hingegen anzubieten hatte, waren vage Verdachtsmomente und intuitive Befürchtungen. Hardy würde mich höflich anhören, mir für meine Informationen danken und mir versichern, daß ich mir keine Sorgen machen sollte.
Die Antworten, die ich brauchte, mußten von einem Insider stammen; nur wer die Swopes im Leben gekannt hatte, war imstande, mir Informationen zu liefern, die genügend Licht auf ihren Tod warfen. Sheriff Houten machte einen ehrlichen Eindruck. Aber wie viele große Frösche in einem kleinen Teich identifizierte er sich zu sehr mit seiner Rolle. Er war das Gesetz in La Vista, und jedes Verbrechen, das dort begangen wurde, betrachtete er als einen ganz persönlichen Affront. Ich erinnerte mich an seinen Wutausbruch, als ich die Vermutung geäußert hatte, Woody und Nona könnten sich irgendwo im Dorf aufhalten. So etwas kam in seinem Reich nicht vor.
Eine solche Einstellung setzte notwendigerweise eine schönfärberische Haltung voraus, wie sie sich unter anderem durch die formelle Koexistenz zwischen der Kleinstadt und der Berührer-Sekte ausdrückte. Auf der positiven Seite führte sie zu Toleranz, auf der negativen zu einem stark eingeschränkten Blickwinkel.
Ich konnte mich also nicht an Houten wenden, um Hilfe zu bekommen. Er würde die Nachforschungen eines Außenseiters keinesfalls freudig begrüßen, und die Sache mit Raoul hatte seine Abneigung sicherlich noch bestärkt. Andererseits konnte ich auch nicht in La Vista auftauchen und Gespräche mit Fremden in die Wege leiten. Momentan sah die Lage also ziemlich hoffnungslos aus, und La Vista war für mich eine verbotene Stadt.
Dann fiel mir Ezra Maimon ein.
Dieser Mann hatte
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