Flügel aus Asche
Gesetze und seine Lehren Gültigkeit haben.«
Talanna hielt inne, noch halb geduckt wie zum Wegrennen, die Hand auf dem Knauf des Schwertes. »Halt den Mund. Ich will es nicht hören.« Es war nicht die Härte seiner Worte, die sie quälte, spürte Adeen, sondern die Tatsache, dass er sie überhaupt verteidigte. Und er verstand, dass er Talanna vielleicht Vorwürfe gemacht und sie mit Verachtung gestraft haben mochte – aber niemand hatte sie so oft und so erbarmungslos verurteilt wie sie sich selbst.
»Doch, du wirst mir zuhören. Du hast das Beste getan, was du konntest, Talanna. Du hast dich gegen den Herrscher gestellt, als du begriffen hast, dass es das Richtige ist. Du warst mutig, hast uns geholfen – und ich habe einen Fehler gemacht, weil ich dir zum Vorwurf gemacht habe, was du vorher gewesen bist und was du getan hast. Es tut mir leid.«
Seine Worte überschlugen sich beinahe, und als alles gesagt war, fühlte es sich an, als hätte er sich von einer schweren Last befreit. Schweigen erfüllte das Gewölbe. Talanna stand nicht mehr ganz so geduckt da, doch auch sie sagte nichts.
Schwärmer räusperte sich. »Adeen hat recht«, erklärte er schlicht. »Wenn diese Geschichte wahr ist, hat Talanna ihre Fehler erkannt und danach gehandelt.« Er legte Yoluan, der mit geballten Fäusten dastand, die Hand auf den Arm, und langsam, wie gegen seinen Willen, ließ der breitschultrige Mann die Fäuste sinken. Schwärmer trat auf Talanna zu. »Ist das wahr?«
»Ja«, erwiderte Talanna mit spröder Stimme. »Aber ich …«
»Es ist nicht einfach, eine solche Entscheidung zu treffen. Du kannst stolz auf dich sein.«
»Stolz?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich war blind. Ich habe den Tod dieses alten Mannes verschuldet, und den weiterer Unschuldiger. Das kann nie wieder gutgemacht werden. Nun wisst ihr wenigstens alles und werdet mich gehen lassen, weil es sein muss. Ihr werdet mich doch gehen lassen, um den Herrscher zu töten? Das ist die einzige Möglichkeit, diesen Krieg für immer zu beenden.«
»Den Herrscher töten?«, wiederholte Schwärmer. »Du glaubst, es ist … möglich?« Adeen war so überrascht, dass er kein Wort herausbrachte. Er kannte Talannas Kühnheit, aber damit hatte er trotz allem nicht gerechnet.
»Es ist möglich«, bestätigte Talanna, »wenn ich zu ihm gelange.«
Das hast du also die gesamte Zeit über geplant. Deshalb hast du dich von uns zurückgezogen. Aber warum?
»Wie willst du das schaffen? Er ist sicher gut bewacht –«
Ihr Blick ging durch ihn hindurch. »Nicht so gut, wie du vielleicht denkst, sobald die Tür geöffnet ist. Er versteckt sich hinter Zaubern, aber seine Berater haben den Schlüssel.«
Adeen sah auf die Schriftrolle in ihrer Hand. »Charral.«
Sie nickte, und Schwärmer warf ihnen beiden einen fragenden Blick zu.
»Er trägt Zeichen auf seiner Haut«, erklärte Talanna, und es war ihr anzumerken, dass jedes Wort widerwillig über ihre Lippen kam. »Das ist der Schlüssel.«
»Wie hast du den Magier besiegt?«, fragte Schwärmer. »Er soll einer der wichtigsten Hauptleute des Herrschers sein.«
»Nicht ich. Adeen.«
Adeen fühlte sich unbehaglich, als sich alle Augen auf ihn richteten. Sein Kampf gegen Charral ging die anderen nichts an. Sie würden nicht verstehen, was er selbst nicht verstand: die erschreckende Macht des Aschevogels, seine Gier danach, alles zu töten, was sich ihm in den Weg stellte, um die Flügel unter freiem Himmel auszustrecken. »Ich hatte nur Glück«, sagte er anstelle einer Erklärung.
»Ist er tot?«, erkundigte sich Schwärmer.
Talanna sagte nicht ohne Missfallen: »Nicht, als wir ihn zuletzt gesehen haben.«
Adeens Gedanken schweiften ab, tasteten sich durch die Nebel in seiner Erinnerung, kehrten zurück zu seiner Jugend im Schreibsaal der Akademie, kehrten weiter zurück zu den Bruchstücken seiner Kindheit und dorthin, wo nichts mehr war bis auf ein stechendes grünes Licht. Er versuchte zu ergründen, was er über den Herrscher wusste, den Mann, der Rashija geschaffen hatte, der ihre Gesetze gemacht hatte und das Schicksal aller Menschen, Magier und Draquer bestimmte, die er kannte. »Der Herrscher« – das war nicht mehr als ein Wort, ein Schatten, eine Idee. Dass Talanna ihn töten wollte, erschien ihm unerhört, ja unsinnig, so als wolle man sein eigenes Spiegelbild töten. Und doch musste er dort sein, verhüllt hinter der Angst und dem Respekt der Rashijaner, hinter einer Mauer aus Magie, ein lebendiger Mann.
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