Flügel aus Asche
zahlreichen Plätzen versammelt, die Akademie war nur einer davon. An vielen Stellen fauchten Flammen, und schwarzer Rauch stob in den blauen Winterhimmel hinauf,
formte Flügel, voller Funken …
Erschöpft rieb sich Adeen die Augen. Seine Sinne täuschten ihn. Was würde geschehen, wenn er vor Müdigkeit die Kontrolle verlor und der Aschevogel im falschen Moment zurückkehrte? Doch er schob die Befürchtungen beiseite und beeilte sich, nicht hinter Talanna zurückzufallen, die trotz ihres verletzten Beins rasch voranschritt. Wie genau er das Versprechen erfüllen sollte, das er Yoluan gegeben hatte, wusste er nicht, und er fühlte sich erst recht nicht wie der Held, dessen Rolle er eben noch gespielt hatte.
Den Regierungssitz – oder den Herrscherpalast, wie man ihn auch nannte – hatte Adeen häufig aus der Ferne gesehen, ein Gebäude, das für ihn ebenso gut in einer anderen Welt hätte stehen können, so wenig hatte er bisher auch nur erwogen, sich ihm zu nähern. Er war auf der Spitze eines steilen Felsens errichtet, dem höchsten Berg Rashijas. Dort oben thronte er, ein Klotz aus schwarzem Stein und blauschimmerndem Siltkristall, gespickt mit stachligen Türmen, massig, wehrhaft, ohne die Eleganz der Akademie. Nur ein schmaler, gewundener Pfad führte hinauf. In diesen Räumen traf sich der Rat und fällte Entscheidungen über die Zukunft Rashijas, und dort wohnte auch der Herrscher. Menschen hatten sich am Fuß des Berges versammelt, standen auf dem Pfad oder bildeten kleine Gruppen vor der Tür des Gebäudes, von hier aus so klein, dass sie kaum zu erkennen waren. Der abschüssige Fels ließ ihnen nicht genug Platz, ihren Kreis rings um den Herrscherpalast zu ziehen. Auch hier sah Adeen Fackeln brennen, aber die Leute wirkten zurückhaltender als bei der Akademie, ängstlicher. Auch sie skandierten Sätze, aber leiser, und niemand wagte es, Feuer gegen die schwarzen Wände zu schleudern. Die Menschen hielten zwar Waffen in den Händen, doch es waren meist nur Stöcke, Brotmesser oder andere zweckentfremdete Alltagsgegenstände.
Er folgte Talanna, die sich durch die Masse hindurchschlängelte, und kämpfte sich hinter ihr atemlos den Hang hinauf. Oben fiel der schwere Schatten des Herrscherpalasts auf sie. Hier war der gefrorene Boden noch immer weiß von Reif, obwohl Mittag längst vorüber war. Die Menschen, die sich hier versammelt hatten, begrüßten die Neuankömmlinge, als gehörten sie zu ihnen. Eine junge Frau – zu Adeens Erstaunen trug sie die Drachenrüstung der Magierwachen – war auf einen Felsen gestiegen und verlangte mit lauter Stimme von dem schweigenden Gebäude, der Herrscher solle heraustreten und zu seinem Volk sprechen. Er solle erklären, weshalb er diejenigen im Krieg sterben lasse, an deren Wohlergehen ihm doch angeblich so viel liege, weshalb sie, die Herren der Welt, von Barbaren mit Spießen und Stöcken abgeschlachtet würden, sobald sie ihren Vorrat an magischen Schriftrollen verbraucht hätten. Pfiffe und Applaus aus der Menge begleiteten ihren Vortrag. Andere Stimmen riefen nach einfacheren Dingen – Mehl, Decken, Wasser –, und auf diese Rufe hin liefen erst recht Wellen leidenschaftlicher Zustimmung durch die Versammlung. Auch hier entdeckte Adeen weitere Drachenrüstungen und rote Umhänge inmitten der protestierenden Menschen.
Talannas Gesicht leuchtete kurz auf, als sie die Frau sah. »Kuama!«
»Eine Bekannte von dir?«, fragte Adeen.
»Ja, aus der Zeit, als ich beim Militär war. Ich hätte nie geglaubt …«
Als die Frau Talanna in der Menge bemerkte, sprang sie geschmeidig von dem Felsen herab und kam auf sie zu. Respektvoll machten die Menschen ihr Platz. Aus der Nähe konnte Adeen erkennen, dass sie nicht so jung war, wie er im ersten Moment gedacht hatte, denn Falten lagen um ihre Mundwinkel. Er hatte ihr Haar für blond, ihre Haut für hell gehalten wie Charrals, aber sie war eine Draquerin wie Talanna, ganz und gar fahlblau gefärbt wie der Himmel kurz vor Sonnenaufgang. Das Haar hatte sie zu Zöpfen geflochten und um den Kopf gewickelt, wie Adeen es schon häufiger bei weiblichen Mitgliedern des Militärs gesehen hatte, auch bei den Truppen der Königin von Tama.
Kuama blieb vor Talanna stehen. »Du lebst«, stellte sie fest. Ihre Stimme klang kühl.
»Und du forderst den Herrscher heraus. Als wir uns das letze Mal unterhalten haben, wärst du noch für ihn gestorben.«
Einen Lidschlag lang wich die Frau Talannas Blick aus. »Die Dinge ändern
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