Fluegelschlag
sie näher kam, sah sie, dass es ein weiblicher Engel war, der sie mit ausgestreckten Armen willkommen hieß. Ein Engel, der bei näherem Hinsehen erschreckende Ähnlichkeit mit ihr selbst zeigte.
Juna blieb stehen. Unwillkürlich tastete sie nach ihrem Amulett, doch es war fort. Jetzt erinnerte sie sich daran, wie es mitten auf dem Schlachtfeld plötzlich hinabgeglitten war. Der Verschluss musste sich während des Kampfes geöffnet haben.
»Juna, Kind! Fürchte dich nicht, komm zu mir.«
»Mutter?«
Der Engel kam ihr entgegen und schloss sie in die Arme. »Es tut mir so leid!«
»Was tut dir leid?« Juna legte die Hand auf ihren Bauch, der glatt und unversehrt war, als hätte niemals ein Schwertstreich ihr Leben ausgelöscht. »Etwa, dass du mich ausgesetzt
und mit meinen Problemen alleingelassen hast? Oder dass dieser Irre mich umgebracht hat?«
»Pst! So darfst du nicht sprechen. Wenn Michael uns hört, dann …«
» Das war der Erzengel Michael? Der Kerl, der die Gerechten gegen uns aufhetzt?« Juna schwankte leicht und wäre gestürzt, hätte ihre Mutter sie nicht gehalten.
»Scheiße!«, flüsterte sie. Und noch einmal: »Scheiße!« Sie straffte die Schultern.
Ihrer Mutter war anzusehen, dass sie Junas Wortwahl missbilligte. Offenbar hatten sie beide sich ihr Wiedersehen anders vorgestellt.
Du solltest mich mal richtig fluchen hören! Doch die Worte wollten ihr nicht über die Lippen kommen. Juna tat sich schwer damit, dieses himmlische Wesen als ihre Mutter anzuerkennen. Theoretisch mochte sie gewusst haben, dass Engelsblut in ihren Adern floss, aber es war eindeutig etwas anderes, dem wahrhaftigen Beweis gegenüberzustehen. Sie hatte so viele Fragen, aber es gab im Augenblick andere Dinge zu bedenken. Irgendetwas fehlte ihr, und damit meinte sie nicht ihr Leben. Das war weg. Aber es gab etwas anderes, noch wichtigeres, das sie unbedingt wiederfinden musste. Juna war nicht komplett …
Wenn ich mich doch bloß erinnern könnte! Sie sah sich um. »Wo sind wir überhaupt?«
Ihre Mutter griff nach Junas Hand. »Komm jetzt, mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Du wirst das alles später begreifen.«
»Sie bleibt hier!«
Zwei weitere Engel manifestierten sich aus dem Nichts. Blütenweiß von Kopf bis Fuß, einschließlich seines Gefieders,
stand auf einmal Gabriel da. Von dem Silbergrau, das er bei ihren vorherigen Begegnungen zur Schau getragen hatte, war keine Spur mehr zu sehen. Es stimmte also - er verstand sich darauf, die Farbe seiner Flügel dem Anlass entsprechend zu ändern. Nun hob er sich kaum von dem allgegenwärtigen Weiß ihrer Umgebung ab, aber der missmutige Zug um seinen Mund war der gleiche geblieben. Neben ihm stand eine Frau, die trotz einer zierlichen Gestalt in ihrer hoheitsvollen Ausstrahlung dem mörderischen Erzengel Michael in nichts nachstand. Sie war die anmutigste und exquisiteste Erscheinung, der Juna jemals begegnet war, und ein Blick in das vollendete Gesicht ließ sie ahnen, dass sie dem frostigsten unter den herzlosen Engeln gegenüberstand: »Nephthys!«
»Siehst du, er verleugnet mich keineswegs. Sie kennt sogar meinen Namen.« Nephthys legte ihre Hand auf Gabriels Arm. Dann wandte sie sich an Junas Mutter, und das Blau ihrer Augen, das Juna so vertraut vorkam, wurde gletscherfarben.
»Rachiel!«
Juna registrierte den Namen ihrer Mutter. Rachiel. Er gefiel ihr. Rachiel.
Nephthys zeigte auf sie und fragte kühl: »Was hat sie hier verloren?«
Juna reagierte allergisch darauf, wenn jemand über sie sprach, als sei sie nicht anwesend. Eine Eigenart, die ihre Stiefmutter mit diesen Engeln gemein hatte. Die einzige vermutlich.
Von ihr hatte sie sich früher einschüchtern lassen, jetzt jedoch war sie daran gewöhnt, Engeln oder Dämonen zu begegnen, und öffnete gerade den Mund, um denselben Respekt für sich einzufordern, den sie auch diesen Wesen
entgegenbrachte, da tauchte plötzlich ein vierter Engel auf. Jemand, der nicht mehr an diesen Ort gehörte. Jemand, der die Dunkelheit mit sich brachte, in der all das lichte Weiß zu verschwinden drohte.
»Arian!« Juna schrie auf. Wie hatte sie nur ihre Liebe vergessen können? Sie riss sich von Rachiel los, die weiter ihre Hand gehalten hatte, und stürzte ihm entgegen. Doch dann sah sie die klaffende Wunde in seinem Bauch und blieb wie angewurzelt stehen.
»Nein!«
Der Schrei der Verzweiflung verhallte ungehört in dem entsetzlichen Sturm, der nun ausbrach und Juna zweifellos hinweggefegt hätte, wäre sie nicht
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