Fluegelschlag
aus, kraftlos ließ sie sich auf den Stuhl zurücksinken.
»Es ist wirklich so. Sie sind nicht immer da, sondern nur, wenn wir in Gefahr sind. Die Frau in dem Geschäft hatte beispielsweise keinen Schutzengel. Das musst du doch auch gesehen haben.« Plötzlich wurden ihre Augen ganz groß. »Was hat das zu bedeuten?«
Er zog ihre Hand zu sich herüber, drehte sie um und strich sanft mit dem Daumen über die Innenfläche. Die Wärme seiner Finger fühlte sich so gut an, dass es sie nicht gewundert hätte, hätte sie zu schnurren begonnen. Arians beruhigende Laute, deren Sinn sie nicht begriff, taten ein Weiteres. Das Denken fiel ihr auf einmal schwer. »Ist das einer eurer Tricks?«
Seine linke Augenbraue hob sich, und Juna hätte sich für diese Frage ohrfeigen können. Warum fühlte sie sich in seiner Nähe immer so behütet, dass all die seit Jahren antrainierten Schutzmechanismen versagten und sie nicht nur
vollkommen irrational handelte, sondern ausplapperte, was ihr gerade in den Sinn kam? »Natürlich. Warum frage ich? Du bist ein Engel.« Es war unfassbar, dass eines der Lichtwesen, die fast ihr gesamtes Leben begleitet hatten, plötzlich neben ihr sitzen sollte - und sie hatte ihn nicht erkannt. Und doch hegte zumindest ihr Herz keinen Zweifel daran, dass er die Wahrheit sagte.
»Woher weißt du, dass es Schutzengel sind, die du siehst?« Er war keineswegs so ruhig, wie er klang, und fragte sich, ob sie ihn bei ihrer ersten Begegnung etwa erkannt und bereits da für einen Schutzengel gehalten hatte. Vielleicht war er, anders als geglaubt, für normale Menschen unsichtbar gewesen, und ihr erstaunlicher Mut lag genau darin begründet, dass sie sich nicht vor ihm gefürchtet hatte, weil sie seine wahre Herkunft erahnt hatte.
Wenn es stimmte, was sie sagte, verfügte Juna über eine außerordentlich seltene Gabe, und er musste herausfinden, wie groß ihr Talent wirklich war. Schon allein, um sie vor sich selbst zu schützen.
Schutzengel waren friedliche Geschöpfe, von ihnen drohte ihr keine Gefahr. Aber es gab andere magische Wesen, die sich nicht gern in die Karten sehen ließen, und wer ihnen in die Quere kam, hatte allen Grund, sich um sein Leben zu sorgen. Im Laufe seines langen Daseins als Wächter der Menschen hatte er von nicht mehr als vielleicht einem halben Dutzend Engelsehern gehört, und immer hatte es Schwierigkeiten mit ihnen gegeben. Natürlich musste er nach seinem Sturz ausgerechnet bei ihr landen und nun auch noch seine wahre Identität ausplaudern. Die Erinnerung einer Engelseherin zu manipulieren, hatte er nie gelernt.
Es wäre ihm jedoch ein Leichtes gewesen, sie zu töten und anschließend die Realität ihrer Umgebung entsprechend zu verändern. Ihre Familien würden sie vermissen, aber ihren Tod als etwas ganz Natürliches hinnehmen. Zumal ihre Gabe nicht selten einige Generationen übersprang, bevor sie wieder zutage trat. Um seinesgleichen zu schützen, hätte er genau dies tun müssen.
Juna spürte, dass ihn dunkle Gedanken bewegten, und ent− zog ihm ihre Hand. Sofort fühlte sie sich allein, als fehle ihr etwas Wichtiges. Beinahe hätte sie den Arm wieder nach Arian ausgestreckt, um die Wärme zurückzuholen, doch dann besann sie sich, hob das Kinn und schob ihr Haar ungeduldig zurück.
»Ob du mir glaubst oder mich für verrückt hältst, es ändert nichts. Ich bin während meiner ersten Lebensjahre hier in diesem Haus aufgewachsen. Mutter …« Sie zögerte. »Ich kenne meine Mutter nicht. Sie hat mich bei meinen Großeltern abgegeben, weil sie wusste, dass ich es hier gut haben würde.« Junas Stimme klang trotzig. Sie sprach nicht gern über ihre Vergangenheit.
Arian hätte sie gern in den Arm genommen, doch sie saß hoch aufgerichtet auf ihrem Stuhl und wirkte geradezu unberührbar. Er erinnerte sich daran, wie ärgerlich ihr Bruder geworden war, als er Arian im Kilt der Familie gesehen hatte, und fragte sachlich: »MacDonnell ist der Name deiner Familie?«
»Ja. Und die MacDonnells waren immer gut zu mir. Auch Papa!« Juna wischte sich mit dem Ärmel über die Nase.
»Kurz nachdem ich von Glasgow nach London zog, fing es an. Meine Großmutter war krank geworden und konnte sich nicht mehr um mich kümmern. Großvater dachte, so sei es am besten für mich, dabei hätte ich mich um sie gekümmert.« Ihre Stimme wurde ganz weich, während sie sich erinnerte. »Anfangs dachte ich, es wäre etwas mit meinen Augen nicht in Ordnung. Ich ging zum Arzt, aber der
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