Fluegelschlag
gerechnet, eines Tages in den Lauf einer entsicherten Pistole blicken zu
müssen. Von diesen unerklärlichen Ereignissen einmal abgesehen, ängstigte sie am meisten, dass die kleine Stimme der Intuition in ihrem Inneren diesem merkwürdigen Fremden immer noch blind vertraute. Sie konnte nur hoffen, dass es nicht ihre Libido war, die ihr Denken bestimmte. Erfreut stellte sie fest, dass wenigstens dieser Gabriel keine vergleichbare Wirkung auf sie hatte. Obwohl er ebenso dunkelhaarig und etwa gleich groß wie Arian war, hätte sie die beiden niemals verwechseln können. Wo Arian so geschmeidig wirkte, dass sich der Vergleich mit einem Panther geradezu aufdrängte, war Gabriel ihr eher vorgekommen wie ein Bär: ohne jegliche Mimik und auf den ersten Blick mit seinen breiten Schultern und der auffällig muskulösen Figur fast ein bisschen behäbig wirkend. Aber die Menschen liebten Bären - jedenfalls bis zu dem Augenblick, in dem sie sich vor einem in Sicherheit bringen mussten. Im letzten Jahr hatte Juna dabei geholfen, einen Braunbären im Zoo zu behandeln. Dieser Tag würde ihr immer im Gedächtnis bleiben. Das Tier war unglaublich schnell gewesen, als es ohne erkennbare Vorwarnung angriff, um dann ebenso plötzlich wieder umzukehren und den Eimer mit Fisch zu plündern, den Juna vor Schreck hatte fallen lassen. Sie nahm sich vor, auf der Hut zu sein, sollte sie diesem Gabriel noch einmal begegnen.
Doch für Erinnerungen hatte sie keine Zeit. Ihr Verstand war offenbar endlich zurückgekehrt und verlangte Antworten. »Bitte!« Sie machte eine ironische Verbeugung.
Arian schenkte ihr dieses seltene halbseitige Lächeln, das die Symmetrie seines Gesichts auf atemberaubende Weise störte. Folgsam betrat er das Haus und gestattete ihr für wenige Sekunden, seine Gestalt unbeobachtet zu betrachten.
Wer auch immer diesen Mann erschaffen haben mochte, er hatte ein Meisterwerk vollbracht. Sie genoss den Anblick in dem Wissen, dass es das letzte Mal war. Die Chancen standen denkbar schlecht, dass er plausible Erklärungen für die Ereignisse der letzten Tage fände, da war sie ganz sicher. Er würde lügen, Ausreden vorbringen … so wie die meisten Menschen, und dann wäre sie gezwungen, ihn hinauszuwerfen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, konnte sie nicht einmal die richtigen Fragen stellen, ohne ihr eigenes Geheimnis zu verraten. Frustriert folgte sie ihm in die Küche.
»Was möchtest du wissen?« Er würde ihre Erinnerung manipulieren müssen. Bei sensiblen Menschen wie Juna blieben jedoch immer Spuren einer Begegnung mit seinesgleichen erhalten, egal, wie behutsam er vorging. Beantwortete er jedoch alle Fragen zufriedenstellend, blieb ihr immerhin die innere Unruhe des Wissenwollens erspart und damit ihr Seelenfrieden erhalten. Schon jetzt litt Junas Seele unter der Last ihrer neuen Erfahrungen. Sie durfte nicht noch mehr belastet werden. Engel wie er mochten Defizite in ihrer eigenen Gefühlswelt haben - im Lesen von Emotionen anderer blieben sie unübertroffen. Vampire beispielsweise beherrschten die Kunst des Gedankenlesens meisterhaft, aber er hatte festgestellt, dass Engel die Geschöpfe dieser Welt auf eine völlig andere Weise wahrnahmen. Sie sahen eine Bewusstseinsebene, in der die Voraussetzungen für Gedanken erst geschaffen wurden. Dies hatte ihnen den Ruf eingebracht, Ereignisse vorhersagen zu können - doch in Wirklichkeit war das leider allzu selten der Fall. Seherische Fähigkeiten hätten Arian in dieser Situation aber ohnehin nicht weitergeholfen.
Seine warme Stimme beruhigte ihre flatternden Nerven, und während Juna Tee zubereitete, dachte sie, wie unheimlich er noch vor kurzem angesichts der Bedrohung durch den Wachmann geklungen hatte. »Wer bist du?« Sie drehte sich um, den Krug aus Steingut, in dem sie ihren Tee aufbewahrte, in den Händen. »Und vergiss die Amnesie!« Kaum waren die Worte ausgesprochen, gab sie einen merkwürdigen Laut von sich, und es dauerte ein paar Sekunden, bis Arian begriff, dass sie ein Lachen unterdrückte. Arian musste einfach mitlachen, und als sie sich wieder beruhigt hatte, sagte sie: »Du weißt schon, was ich meine!«
Die beklemmende Stimmung der letzten Minuten war verflogen. Jetzt oder nie! Er sah ihr tief in die Augen. »Ich habe nicht gelogen. Ich bin ein Wächter.«
»Aha!« Juna goss heißes Wasser über den losen Tee und trug die Kanne zum Tisch. Er folgte mit den Bechern. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Sie stellte Milch und
Weitere Kostenlose Bücher