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Fluegelschlag

Titel: Fluegelschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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Warum also sollten sie jetzt nicht unsichtbar sein?
    Wenn sie sich konzentrierte, sah sie die Ränder einer schützenden Hülle, die sie beide umgab. Ihr Verstand allerdings weigerte sich zunehmend vehementer, die Erfahrungen der letzten Tage hinzunehmen - sie jemals verarbeiten zu können, schien völlig aussichtslos.
    Juna wollte gerade etwas Derartiges äußern, da heulten plötzlich ganz in der Nähe Sirenen auf. Es schien, als habe die Polizei irgendwo auf der Lauer gelegen. Gleich fünf Autos rasten aus beiden Richtungen heran, bremsten und blockierten den Straßenabschnitt an beiden Enden. Schwarz gekleidete Männer sprangen heraus und versuchten die Kämpfenden zu trennen, was ihnen erstaunlich schnell gelang, denn nun wandte sich die ganze Wut der Straßengangs gegen die Ordnungshüter, und eben noch erbitterte Feinde, wehrten sie sich Seite an Seite gegen ihre Festnahme.
    Juna verlor das Interesse. Schließlich waren sie aus einem ganz anderen Grund hierhergekommen. Arian schien es ähnlich zu gehen. Hoch aufgerichtet stand er neben ihr und
sah konzentriert die Straße hinab, bis er ihren Blick spürte und sie erwartungsvoll ansah.
    »Nichts!«, kam sie seiner Frage zuvor. »Aber Iris lebt. Das weiß ich genau«, fügte sie trotzig hinzu.
    »Lass uns ein Stück gehen.« Arian ließ seine Hand federleicht auf ihrer Schulter ruhen, und wie immer half ihr diese unvergleichlich zarte Berührung, sich zu entspannen. »Versuch, dich für deine Umgebung zu öffnen. Erinner dich, wie du mit Iris gelacht hast, an irgendein Ereignis, das euch einander näher gebracht hat.«
    Unerwartet schwand alle Leichtigkeit, und Juna begriff, dass sie in ihre Welt zurückgekehrt waren.
    Die Gegend, stellte sie schnell fest, sah eigentlich gar nicht so übel aus. Sie wirkte viel weniger verwahrlost, als sie es aus Erzählungen erwartet hatte. Die Qualität der Häuser mochte einfach sein, sie wirkten jedoch modern, waren höchstens fünf oder zehn Jahre alt. Wie in Glasgow riss man offenbar auch hier lieber ganze Straßenzüge ab, um sie später neu zu errichten, als den Menschen eine echte Perspektive zu bieten. So waren in den letzten Jahrzehnten viele historische Gebäude in den traditionellen Arbeiterstadtteilen, die man durchaus hätte erhalten können, gesichtslosen Vorstadtsiedlungen gewichen. Dennoch hatte hier und da jemand versucht, die Gleichförmigkeit der Fassaden durch ein paar Blumen im Vorgarten aufzubrechen. Anderenorts jedoch sammelte sich bereits Schrott: ein verrosteter Fahrradrahmen, die Reste eines Kinderwagens …
    Von weitem sahen auch sie wie Kinder aus.
    Eine Nachwuchsgang! Als sie näher kamen, bestätigte sich dieser Eindruck, obwohl ihre Gesichter jetzt, da sie ihnen direkt gegenüberstand, eigentümlich alt wirkten.
Drei der fünf Jungs mochten kaum älter als elf oder zwölf Jahre sein. Sie trugen die Haare kurzrasiert, ihre dünnen Körper steckten in Trainingsanzügen. Einer bellte ein paar Worte zur Begrüßung. Er sprach Glasgower Dialekt. Die Jüngeren kicherten, wechselten Blicke und kamen rasch näher. Wäre sie allein gewesen, hätte sich Juna gefürchtet. Doch mit Arian im Rücken blieb sie erwartungsvoll stehen. Beide Beine fest auf dem Boden, sachlich. Nur nicht kokett auftreten. Mädchen hatten hier wenig zu sagen, selbst diejenigen, die sich ebenfalls in Gangs organisierten, häufig nicht weniger brutal als die ihrer männlichen Vorbilder.
    Damit hatten sie nicht gerechnet. Es war klar, dass sie erwartet hatten, die beiden Fremden einzuschüchtern.
    Die beiden Älteren folgten ihrer Vorhut betont lässig, die Augen unablässig in Bewegung, als wären sie Untergrundkämpfer, die ständig mit einem Hinterhalt rechneten, und nicht etwa Schuljungen. Border Rebels hatten beide auf ihre Unterarme tätowiert, und sie trugen diesen Namen, der ihnen in einem anderen Stadtteil das Leben hätte kosten können, mit offensichtlichem Stolz. Ebenso die rote Narbe, die sich bei einem von ihnen vom Handgelenk bis zum Ellbogen zog. An der Art, wie er den Arm hielt, erkannte Juna, dass die Verletzung noch nicht sehr lange zurückliegen konnte und offensichtlich tief gewesen war. Sie wusste, dass die Auseinandersetzungen zwischen den Rebels und einer anderen Gang aus Glasgow eine lange Tradition hatten, die bis in die Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts zurückreichte. Söhne, Väter, Großväter - alle getrieben von einem Hass aufeinander, an dessen Ursprung sich längst niemand mehr

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