Fluegelschlag
Jacke fester über der Brust zusammen und sah sich um.
Iris hatte von Arbeitslosigkeit und Armut erzählt, von täglichen Messerstechereien und davon, dass die Straßen nach Einbruch der Dunkelheit in den Händen von Jugendgangs lagen. Gerade deshalb wäre es nicht weiter verwunderlich, ihren Schutzengel hier anzutreffen.
Doch der kurze mentale Kontakt, den sie vorhin zu spüren geglaubt hatte, wollte sich jetzt nicht mehr einstellen. Hilflos sah sie sich um. Juna hätte mehr Müll auf den Straßen erwartet, auch ausgeschlachtete Autowracks, aber wahrscheinlich ging da nur die Fantasie mit ihr durch. Kein Wunder, wenn man wusste, dass dieser Teil Schottlands zu
den sozial benachteiligsten Regionen Europas gehörte - eine Tatsache, die von den Reiseführern wohlweislich verschwiegen wurde. Wer interessierte sich auch für die Ruine von Johnstone Castle, die wie ein hohler Zahn aus dem Wohngebiet herausragte, wenn es Eilean Donan gab, die wahrscheinlich am häufigsten fotografierte Burg, an der zwar praktisch nichts authentisch war, die aber in einer perfekten Highland-Kulisse weiter oben im Norden an der Westküste direkt am Übergang zur Isle of Skye stand. Ehrlich gesagt wäre Juna jetzt auch lieber dort gewesen.
Nachdem sich ihr Herzschlag normalisiert hatte und sie sich auf die Schwingungen in ihrer Umgebung konzentrierte, nahm sie Spuren von Hass und Aggression wahr, die von den gewalttätigen Auseinandersetzungen herrührten. Arian schien von der Atmosphäre ebenfalls nicht unberührt zu bleiben. An der Art, wie er das Kinn hob, erkannte sie, dass er seine Umgebung sehr sorgfältig beobachtete.
Seite an Seite bogen sie um eine Ecke und befanden sich auf einmal mittendrin: Sie sahen aus wie Kinder, aber ihre Wut war die Wut vieler Generationen. Eine Gruppe von fünf oder sechs Jugendlichen rannte an ihnen vorbei, scheinbar ohne sie zu bemerken.
Als sie die Machete in der Hand eines Jungen entdeckte, der kaum älter als vierzehn oder fünfzehn sein konnte, wich Juna erschrocken zurück. Auch andere Kids waren bewaffnet. Sie schlug die Hand vor den Mund. »Himmel, ist das eine Axt?«
Die Verfolger ließen nicht lange auf sich warten. Äußerlich kaum zu unterscheiden, aber zahlenmäßig überlegen und besser ausgerüstet, liefen sie grölend die Straße hinunter und holten schnell auf.
Plötzlich blieb die erste Gruppe stehen und wandte sich um, einer nach dem anderen. Von Panik keine Spur. Arian gab einen Laut von sich, den Juna auch bei größtem Wohlwollen nur als anerkennend zu bezeichnen vermochte.
»Gute Strategie«, hörte sie ihn zu allem Überfluss murmeln und wollte ihn schon zur Rede stellen, da kamen aus einer Parkanlage weitere Jungs angelaufen. Und plötzlich fanden sich die Verfolger in der bedrohlichen Situation wieder, von beiden Seiten eingekesselt zu sein.
Die Entscheidung, ob sie sich der Herausforderung, gegen eine Übermacht antreten zu müssen, stellen oder lieber flüchten sollten, wurde ihnen abgenommen. Es begann mit Drohgebärden zwischen einem Rothaarigen, der seinem Gegner knapp bis zu Schulter reichte, ihm aber um gut zehn Kilo überlegen war, und seinem schlaksigen Counterpart, beide offenbar die Anführer. Der Kleinere hob einen Hammer, den der Lange ihm aus der Hand zu schlagen versuchte. Als das nicht klappte, versetzte er ihm mit der Linken einfach einen Schlag ins Gesicht, so schnell, dass Juna vermutete, er müsse professionelles Training gehabt haben.
Danach ging alles ganz schnell; im Nu fielen die verfeindeten Gangs übereinander her.
»Kannst du nichts tun? Das ist ja fürchterlich!«
Verständnislos sah Arian sie an. »Siehst du nicht, dass sie sich aus freien Stücken so verhalten?«
»Aber … ich dachte, der Dämon hätte seine Hände im Spiel.«
»Ganz sicher hat er das. Kannst du ihn nicht riechen?« Er gab sich die Antwort selbst. »Natürlich nicht, du hast andere Talente.«
Es war nicht seine Schuld, dass Juna sofort an die gemeinsamen
Stunden im Bett dachte, und gewiss lag es auch nicht an ihm, dass die Worte sie verletzten. Dennoch zog sie ihre Hand aus der seinen und trat einen Schritt beiseite. Je mehr Abstand zwischen ihnen war, desto besser. Sie spürte, wie die Flammen ins Freie drängten.
»Was soll das?« Unsanft ergriff Arian ihren Arm und zog sie dichter an sich heran. »Willst du etwa, dass man dich sieht?«
Sie kam sich so unnütz vor. Natürlich hatte er dafür gesorgt, dass niemand sie bemerkte. Sie waren hierhergeflogen. Geflogen!
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