Fluegelschlag
besonders dunklen Stunden fand Juna, dass sie es verdient hatte, in der Hölle zu landen.
Sie schloss die Augen, um zu weinen, aber keine Träne floss, um ihr die ersehnte Erleichterung zu bringen. Als sie seinen Namen flüsterte, brannten ihre Augen: Arian.
»Er wird dich nicht hören können«, sagte eine leise Stimme.
»Was?« Juna setzte sich abrupt auf. »Aber du weißt, dass ich versuche, mit jemandem Kontakt aufzunehmen. Wer weiß das noch?« Sofort bemühte sich Juna, Arians Bild aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie machte sich Vorwürfe. Hatte sie ihn womöglich mit ihren mentalen Hilferufen gefährdet?
Vor ihr stand ihre Wächterin. Sie war ähnlich luftig bekleidet wie sie selbst und lächelte müde. »Niemand hört die Schreie der Verdammten. Auch kein so schöner Engel wie er.«
Täuschte sie sich, oder erschien ein verträumter Ausdruck im Gesicht der Frau? Arians Aussehen wollte sie aber ganz bestimmt nicht mit ihr diskutieren. »Verdammt? Was meinst du damit?« Juna betete, dass die Frau nicht wieder in ihr trauriges Schweigen verfallen würde, wie sie es bisher immer getan hatte, sobald Juna sie angesprochen hatte. Sie bemühte sich, ihre Aufregung zu verbergen, und nannte ihren Namen. Ein wenig zögerlich zwar, denn Iris hatte ihr erklärt, welche Kraft den Namen der Dinge und ganz speziell der Lebewesen innewohnte. Nicht ohne Grund hatte der Dämon wissen wollen, wie sie hieß. Doch hier konnte sie vielleicht Vertrauen gewinnen. Würde die Fremde ihrer Offenheit mit einer ehrlichen Antwort begegnen? Ohne ihre Anspannung zu verraten, fragte sie: »Und wie heißt du?«
Die Frau schwieg. Doch als Juna schon nicht mehr mit einer Antwort gerechnet hatte, sagte sie: »Nigella«, und sah sich sofort um, als erwarte sie, dass jemand in der Tür auftauchen und sie strafen würde. Ihre Stimme klang wie das Plätschern einer Quelle, und Juna dachte, dass sie eines der bezauberndsten Geschöpfe gewesen wäre, denen sie jemals
begegnet war, hätte der gesenkte Kopf das Bild einer todtraurigen Kreatur nicht noch verstärkt. Ihre Bewegungen waren sparsam, auf das Nötigste reduziert, und ihre Blicke hatten sich bisher höchstens einmal zufällig getroffen.
Juna sah ihre Chance und hoffte, dass diese erstaunliche Sinneswandlung länger anhalten würde. Nigellas Mut wirkte zerbrechlich wie ein winziger Flakon kostbarer Essenzen. »Ein schöner Name.«
Sie konnte nicht widerstehen und streckte die Hand aus, um das schwarze Haar zu berühren, das leicht vor- und zurückschwang, sobald sich die Frau bewegte.
Eine erschreckend klare Vision ließ sie innehalten: ein Sommertag am Meer. Sie schob die Gardine ihres kühlen Hauses beiseite und blickte auf weiße Schaumkronen, die auf den Wellen tanzten wie Papierschiffchen, aber auch auf die Felsen einer Vulkaninsel, die sich wie ein Scherenschnitt gegen das helle Blauviolett des Morgenhimmels abhoben.
Woher war das gekommen? Juna fragte sich, ob sich ihr in dieser Szene eine Erinnerung Nigellas an bessere Zeiten offenbart hatte. Erschrocken ließ sie die Hand sinken, obwohl Nigella ganz ruhig dasaß und sie mit neu erwachtem Interesse betrachtete, als wisse sie ganz genau, was die Menschentochter gerade gesehen hatte.
Juna schüttelte den Kopf, um die fremden Bilder loszuwerden. Wenn sie Nigella überreden wollte, ihr zur Flucht zu verhelfen, musste sie so viel wie möglich über sie erfahren.
Der Kontrast zwischen Nigellas Haar, der hellen Haut und dem zartblauen Kleid, das sie trug, war so bezaubernd, dass Juna überzeugt war, es nicht mit einer normalen Sterblichen zu tun zu haben. Ein Engel oder Dämon, wie sie ihn
bisher in Gestalt von Nácar kennengelernt hatte, war sie allerdings nicht, das wusste Juna sofort, als ihre Fingerspitzen nicht ganz zufällig die schmalen Finger der anderen streiften. Dennoch weckte sie eine Erinnerung. Waren sie sich vielleicht schon einmal begegnet? Ausgeschlossen! »Wer bist du?« Sie bemühte sich um einen beiläufigen Ton.
Nigella sah auf, und der Schatten legte sich erneut über ihre edlen Züge. »Ich danke Nácar, dass ich ihm dienen darf.«
Jetzt bloß nichts Falsches sagen! , ermahnte sich Juna und zählte lautlos bis drei. »Du machst da einen großartigen Job, wenn ich das sagen darf. Das könnte ich nie. Weißt du, ich bin Tierärztin«, fügte sie ein wenig zusammenhanglos hinzu, weil ihr keine weiteren Komplimente einfallen wollten. Als sie an die Praxis dachte, brach beinahe ihre Stimme, und die nächsten
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