Flüsterherz
Musik schließlich etwas ist, das Spaß machen soll. Gut, ich hatte eine Stunde versäumt. Eine einzige. Aber das war doch kein Kapitalverbrechen.
Pa trommelte ungeduldig auf die Schreibtischplatte. Neben seinem linken Auge begann ein Muskel zu zucken.
Ich presste die Lippen fest zusammen, damit mir auch ja nichts Falsches rausrutschte.
»Kriege ich bald eine Antwort, Anna? Hast du etwa vor, die Geige an den Nagel zu hängen? Der Unterricht kostet eine Menge Geld, ist dir das eigentlich klar?« Der Muskel zuckte immer heftiger und an Pas Hals bildeten sich die ersten roten Flecken. Ich musste ihn rasch beschwichtigen.
»Tut mir leid, Pa«, sagte ich. »Es kommt nicht wieder vor.«
»Das will ich dir auch raten!« Damit ging er aus meinem Zimmer.
Ufff.
5
Am nächsten Tag in der großen Pause standen wir wie immer zu viert in unserer Ecke auf dem Schulhof: Jeske und Lianne, Eileen und ich.
»Wie war’s gestern bei Tibby?«, fragte Eileen und warf mir einen neugierigen Blick zu. »Meine Mutter meint, sie wohnen in einem besetzten Haus.«
»Echt wahr?«, sagte Jeske. »Ist ja irre.«
»Ja, das stimmt«, sagte ich. »Und das Haus ist einfach traumhaft. Sie haben vier Katzen und einen Gemüsegarten und die Wäsche hängen sie zum Trocknen nach draußen an die Leine.«
»Iiieh!« Eileen rümpfte die Nase. »Da kacken ja die Vögel drauf.«
»Wie hast du Tibby überredet, dich mitzunehmen?«, bohrte Jeske weiter. »Ich möchte zu gern auch mal ein besetztes Haus sehen.«
»Ganz einfach: Ich hab gefragt, ob ich mitkommen darf, weil ich zu gern mal ein besetztes Haus sehen würde.«
»Im Ernst?«
»Quatsch!«, erwiderte ich. »Ich kenne Tibby von früher, aus dem Kindergarten.«
»Und warum kommt sie mitten im Schuljahr zu uns?«, wollte Lianne wissen.
»Gute Frage«, sagte ich.
»Kennt ihr den neuen Laden in der Einkaufsstraße?
Pretty Pearls & More?
«, fragte Eileen.
»Klar, die haben tollen Schmuck. Was ist damit?«, fragte Lianne.
»Die stylische Besitzerin ist Tibbys Mutter.«
»Echt wahr?«, staunte ich.
Pretty Pearls
… wow! Ich wünschte, meine Mutter hätte auch so ein Geschäft statt dieser langweiligen Apotheke.
Tibby stand ein Stück von uns entfernt. Sie trug ein verwaschenes schwarzes Schlabbershirt mit komischen Schleifen an den Ärmeln. Als sie hersah, winkte ich.
Zögerlich kam sie näher.
»He, Tibby«, sagte Lianne. »Cooles Shirt. Wo hast du das her?«
»Aus Mailand«, sagte Tibby.
Wir prusteten los, aber Tibby kaute auf ihren Fingernägeln herum und wirkte mit einem Mal ganz verlegen. Ich dachte, sie hätte einen Witz gemacht. Ich konnte ja nicht ahnen, dass es stimmte, das mit Mailand.
»Gehört der neue Laden tatsächlich deiner Mutter?«, fragte ich. »
Pretty Pearls & More?
«
Sie nickte.
»Du Glückspilz. Der Laden ist superschön!«
»Geht so«, murmelte sie.
»Ich wär unglaublich stolz, wenn meine Mutter so ein Geschäft hätte.«
»Bin ich auch, aber seit sie dort arbeitet, hat sie für nichts mehr Zeit.«
»Wollen wir nach der Schule hingehen?«, fragte Eileen.
Tibby druckste herum. »Meine Mutter hat ziemlich viel zu tun, glaub ich«, sagte sie schließlich.
»Haben wir doch alle.« Lianne lachte.
Sie musste zum Ballett, Jeske hatte Volleyballtraining und dann trugen die beiden noch irgendein Anzeigenblatt zusammen aus. Eileen hatte Tennisstunde, und ich musste dringend Geige üben, damit Pa und Viola Ruhe gaben. Außerdem sollte bald eine Aufführung unseres Orchesters stattfinden, in demEileen und ich mitspielten. Die Hockeysaison war zum Glück schon vorbei. Zu viert in den Laden zu gehen, wäre also gar nicht drin gewesen.
Deshalb gingen Tibby und ich ein paar Tage später allein.
6
Pretty Pearls & More
lag in der Fußgängerzone. Weil gerade keine Kunden da waren, dekorierte Tibbys Mutter etwas im Schaufenster um. Sie war groß, hatte eine tolle Figur, trug unglaublich coole Klamotten und ein grellbuntes Tuch um ihr schwarzes Haar.
»Hallo, Mam«, sagte Tibby. »Das ist Anna.«
»Hi, Anna! Ich heiße Sharima.« Sie strahlte mich an. »Schön, dich kennenzulernen.«
Sie gab mir die Hand und zog mich gleich mit zu einem Regal.
»Schau mal, wie findest du die Tücher hier? Süß, nicht? Von
Magic Muds
. Ganz neu reingekommen.« Sie nahm ein blaues Tuch mit rotem Perlensaum und drapierte es um einen Styroporkopf. »So könnte man es tragen«, sagte sie. »Oder so: um den Hals und locker verknoten, das sieht auch gut aus, findest du nicht?«
Ich
Weitere Kostenlose Bücher