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Flüsterherz

Flüsterherz

Titel: Flüsterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Debora Zachariasse
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Hals? Wo bringt man ein rotes Kabel unter, mit dem man sich gleich an einem abgrundhässlichen Kunstwerk auf dem Schulhof erhängen will?

2
    In der Schule konnte ich mich kaum konzentrieren. Den ganzen Tag musste ich an Tibby denken, an ihren abwesenden Blick, den Striemen am Hals und die lila Augenringe. Vor allem aber an ihre Verzweiflung. Immer wieder sagte ich mir, dass ihr nun endlich geholfen wurde, dass alles wieder gut werden würde.
    Am Freitagnachmittag hatten wir Mathe. Total nervig, denn kurz vor dem Wochenende hat kein Mensch Lust darauf. Nicht mal bei Frau Driessen, die komplizierte Dinge so gut erklären kann, dass sie auf einmal kinderleicht wirken. Es herrschte eine solche Unruhe in der Klasse, dass niemand mitbekam, dass es an der Tür klopfte.
    Wir wurden schlagartig still, als plötzlich JP im Klassenzimmer stand.
    Trotz des Chaos nickte er Frau Driessen freundlich zu und sagte nur: »Kann ich mir Anna für einen Moment ausleihen?«
    Ich erschrak.
    »Was hast du jetzt wieder ausgefressen?«, flüsterte Jeske neben mir.
    Nichts. Ich war schon lange nicht mehr rausgeschickt worden – kein einziges Mal, seit ich mit dem Ägyptenbuch arbeiten durfte.
    »Kommst du bitte mit?«, sagte JP. Mehr nicht.
    »Was ist denn, Herr van Dijk?«, fragte ich. Als er nicht antwortete, wurde ich nervös.
    Der Flur kam mir doppelt so lang vor wie sonst. Wer hatte sich bloß dieses deprimierende Schwarz-Weiß-Fliesenmuster ausgedacht? In Schulen sollte man bunte Farben nehmen: Rot, Rosa und Grün. Aber nicht Schwarz-Weiß. Auf keinen Fall Schwarz-Weiß. Und die Flure durften nicht so endlos lang sein.
    Dr. J. P. van Dijk, Rektor
. Auf dem Kupferschild waren schmutzige Fingerabdrücke zu sehen.
    Ich wurde noch unruhiger. Warum sagte er kein Wort?
    »Ich hab doch nichts verbrochen, oder?«
    »Nein, nein«, sagte JP. »Komm bitte rein.« Er räusperte sich. »Setz dich. Dein Vater wird jeden Moment hier sein.«
    Mein Vater? In meinem Kopf überstürzten sich die Gedanken. Warum hatte JP meinen Vater herbestellt?
    »Ist was passiert?«, fragte ich. »Mit meiner Mutter? Mit Sam?« Ich sprang auf. »Hat Sam etwa einen Unfall gehabt?«
    JP schüttelte den Kopf und ich nahm wieder Platz. Er schob einen Papierstapel auf dem Schreibtisch hin und her, nahmdie Brille ab und setzte sie wieder auf. »Es geht … äh … um deine Freundin. Tiberia Rabi. Sie ist … äh …«
    JP hustete. Dann stand er abrupt auf, ging zu einer bespritzten Espressomaschine in der Ecke, fummelte ungeschickt an den Knöpfen herum und stellte gerade noch rechtzeitig zwei Tassen darunter.
    »Sie ist …«, wiederholte er. »Sie ist im Krummen Rhein gefunden worden.«
    Er gab mir eine der Tassen. Ich ließ sie fast fallen.
    »Im Winter?«, rief ich verdutzt. Dann erst begriff ich, was er mir damit sagen wollte. »Was ist mit ihr? Ist sie …«
    JP nickte. »Jede Rettung kam zu spät. Sie …« Er räusperte sich ein paarmal und sah mich bedrückt an.
    »Aber das ist völlig unmöglich. Sie ist im Krankenhaus. Ich hab sie doch am Mittwoch noch besucht. Das muss ein Irrtum sein. Ein Missverständnis. Tibby kann supergut schwimmen.«
    JP schüttelte traurig den Kopf. »Es tut mir leid, Anna. Es tut mir unendlich leid.«
    Ich verlor die Nerven. »Sie war in guten Händen!«, schrie ich. »Sie hat Pillen bekommen. Vorgestern hab ich sie besucht. Ich versteh das alles nicht. Sagen Sie bitte, dass das nicht wahr ist!«
    »So etwas zu verstehen, ist schwer«, sagte JP. »Ich weiß nicht, ob das überhaupt jemand kann.«
    Das Gesicht in den Händen vergraben, wiegte ich mich hin und her, hin und her.
    »Nein …«, flüsterte ich. »Das kann nicht wahr sein. Ich glaub das nicht.«
    »Anna.« JPs Stimme, aus weiter Ferne.
    »Anna.« Jetzt dringlicher.
    Ich sah auf. Er hatte den Kopf auf die Hände gestützt. Graues Gesicht, graue Haare, graue Schatten um die Augen. »Anna, dich trifft keine Schuld. Du hättest es nicht verhindern können. Es kommt vor, dass ein Mensch eine völlig unverständliche Entscheidung trifft. Es ist nicht deine Schuld.«
    »Aber …« Mir kamen die Tränen. Ich wischte sie mit einer raschen Handbewegung weg, doch es waren zu viele, zu viele Tränen.
    JP gab mir ein Taschentuch. »Du hast getan, was du konntest. Mehr war nicht möglich.«
    Es klopfte und Pa kam ins Zimmer. JP gab ihm die Hand. »Mein Beileid«, sagten beide gleichzeitig. Es klang wie ein schlechter Scherz.
    JP gab auch mir die Hand. »Mein Beileid, Anna. Es tut mir

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