Flüsterherz
voller Möglichkeiten und ohne Zwang. Ich lag am Ufer des Krummen Rheins, mit einem Mädchen, dessen Lächeln die Sonne aufgehen und die Blumen erblühen und die Vögel singen ließ, einem Mädchen mit strahlenden Augen und schlabbrigen Kleidern, das mit einem Lächeln meine öde Eiswelt auftaute und mich aus meinem braven Dasein in Stahl und Stein befreite, in dem Einsen in Französisch die Höhepunkte bildeten.
Easy hielt mich im Arm, während ich heulte und heulte. Nach einer Weile versiegten die Tränen. Er wischte sie zärtlich von meinen Wangen.
Wir saßen im fahlen Licht des Krankenhausflurs und warteten.
Dann kamen Jeff und Sharima. Jeff war leichenblass und hatte rote Augen, und Sharima stand steif und würdevoll da, wie eine uralte Statue aus schwarzem Basalt.
Ihr Anblick machte mir Angst.
Eine Schwester forderte sie und Jeff auf mitzukommen, als Tibby mit einem fahrbaren Bett auf die Station gebracht wurde.
Wieder warteten wir.
Schließlich kam eine andere Schwester und meinte, Tibby sei über den Berg und Ma würde uns abholen.
Ein Pfleger brachte uns frischen Kaffee.
Es war noch dunkel, als Ma auftauchte und uns beide umarmte.
»Willst du mit zu uns?«, fragte sie Easy. »Oder lieber nach Hause?«
»Kommst du zurecht, Anna?«
Ich nickte.
»Dann würde ich lieber nach Hause gehen. Ich bin völlig fertig«, sagte er. »Ist das okay?«
Selbstverständlich war das okay. Er umarmte mich. »Bis später«, sagte er und gab Ma die Hand.
»Kommt nicht infrage«, sagte Ma. »Wir fahren dich natürlich. Das Rad legen wir in den Kofferraum.« Sie lächelte ihr Ma-Lächeln und draußen ging die Sonne auf.
Ich blieb den Rest des Tages zu Hause. Ma auch, extra wegen mir, obwohl ich nur auf dem Sofa rumhing. Ich heulte nicht, sagte kein Wort, saß einfach nur da und zappte wie ein Zombie durch die Programme.
Ma brachte Milchkaffee, den ich kalt werden ließ.
Unter den Videos und DVDs fand ich ein paar Folgen von
Das Haus Anubis
, die ich mir nacheinander ansah, und auchnoch eine Uralt-Videokassette in einer knittrigen Hülle, auf der »Anna und der Nikolaus« stand.
Tibby war auch auf dem Film. Wir waren etwa vier, sahen total niedlich aus und glaubten noch felsenfest daran, dass der Nikolaus allen braven Kindern gleich viele Geschenke brachte.
Erst da kamen die Tränen.
Ma ließ alles stehen und liegen, setzte sich zu mir und streichelte mir übers Haar.
»Sie ist jetzt in guten Händen«, sagte sie. »Ihr seid gerade noch rechtzeitig gekommen. Als hätte es so sein sollen. Und ihr habt genau richtig gehandelt und damit Tibby das Leben gerettet.«
Ich wusste nichts darauf zu sagen. Mein Kopf war vollkommen leer. Ich schwieg.
»Wie fühlst du dich?«, fragte sie.
Nichts, ich fühlte nichts, und ich dachte auch nichts. Was ich befürchtet hatte, war nun wirklich passiert. Ich wollte nie mehr denken und nie mehr etwas fühlen.
Alles vergessen. Für immer. So wie Tibby.
Ich wollte schlafen.
Als ich im Bett lag, kam Ma noch mal ins Zimmer und brachte mir warmen Kakao.
»Ma …«, sagte ich.
»Ja, mein Engel?«
»Ich bin so froh, dass du da bist.« Dann verkroch ich mich unter der Decke und wartete, bis der Schlaf mich überfiel und alles schwarz und still wurde.
Am Sonntag durfte Tibby Besuch bekommen. Ma blieb im Flur und ich ging zögernd hinein.
Tibby lag allein im Zimmer, das zweite Bett war leer.
Ich zog einen Stuhl zu ihr heran. »Hallo, Tibs, wie geht es dir?«
Sie lächelte verkrampft, wie eine Puppe. »So gut wie noch nie«, sagte sie. »Hier ist’s wie im Fünfsternehotel. Dreimal am Tag werd ich gefragt, was ich essen will, und ständig bringen sie Kaffee und Tee.«
Mir war nicht nach Lachen zumute.
Der Striemen an ihrem Hals hob sich dunkel von dem blassen Gesicht ab.
Ich seufzte und nahm dann allen Mut zusammen. »Tibs, warum hast du das nur gemacht?«
»Ach …« Das starre Puppenlächeln verschwand.
Ich wartete, aber es kam nichts weiter. War das die Antwort:
Ach …?
Ich zog mit dem Finger das eingewebte Karomuster des Bettbezugs nach und wusste nicht, was ich sagen sollte.
Nach einer Weile setzte Tibby sich auf. »Warum sagst du nichts?«, fragte sie.
»Mir fällt nichts ein«, sagte ich. »Weil alles so schlimm ist.«
»Es ist nicht deine Schuld, das hab ich doch gesagt. Du kannst nichts dafür.«
»Aber ich möchte dir so gern helfen.« Auf einmal musste ich an Sam denken, der mitten in der Nacht hinter mir hergefahren war, weil er mir helfen wollte, und mich
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