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Flüsterherz

Flüsterherz

Titel: Flüsterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Debora Zachariasse
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rief irgendwas, von wegen, dass es um Tibby gehe und dass sie kommen sollten. Schnell, sofort! Ich nannte meinen Namen und dann noch mal die Adresse.
    »Krankenwagen ist unterwegs.«
    Ich rannte zu Easy. »Sie kommen!«
    Dann beugte ich mich über den Zaun. Ich musste mich übergeben.
    Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Easy neben Tibby kniete und sich immer wieder über sie beugte.
    »Sie lebt noch«, sagte er. Erst da begriff ich.
    Die Welt um mich kam zum Stillstand.
    Sie lebte noch! Und Easy beatmete sie!
    Eine wilde Entschlossenheit ergriff mich. Ich wischte mir den Mund sauber und kniete mich neben Easy. Als er nicht mehr konnte, übernahm ich und atmete warmes Leben in Tibbys Lungen, atmete Hoffnung, inständige Hoffnung.
    Bleib am Leben!
    War das ihr Herz, das schwache Pochen?
    Mein Mund war staubtrocken. Easy löste mich wieder ab. Tränen rannen ihm über die Wangen.
    Auf dem Boden neben uns lag ein zerschnittenes Elektrokabel: das kirschrote Kabel von Jeffs Gitarre. Wieder musste ich würgen.
    Mit einem Mal herrschte auf dem Schulhof enorme Hektik. Blaulichter zuckten, Leute in weißen Kitteln rannten herum, stellten Fragen, wollten wissen, wie sie hieß, wie ich hieß … Ich begriff überhaupt nichts, konnte keine Antworten geben.
    Augenblicke später lag Tibby auf einer Trage hinten im Krankenwagen, an Schläuchen und unter einer grellen Lampe. Jemand klebte ihr einen blauen Schmetterling mit einem Röhrchen auf den Handrücken. Ihr Pulli war zerrissen, oben am Halsausschnitt, und auch dort hing ein Schlauch. Es war der orangefarbene Pulli, den sie so hasste.
    »Tibby! Wach auf!«, flüsterte ich. »Bleib bei uns. Ich brauch dich.«
    »Anna fährt mit«, sagte Easy zu einem der Rettungshelfer. »Sie muss mit ihr reden.«
    »Mitfahren kann sie, aber nicht hinten«, sagte der Mann. Er hatte ein verunglücktes Tattoo am Unterarm: eine Eistüte mit drei Kugeln. Rot, weiß, braun.
    Ich stieg ein.
    »Halt die Ohren steif, ich komm so schnell wie möglich nach«, sagte Easy.
    Wieder zuckten Blaulichter. Ich winkte Easy zu, sah Polizisten, sah alle möglichen Leute, sogar JP und Putzteufel. Wo kamen die bloß auf einmal her?
    Am Krankenhaus wurde Tibby im Eiltempo aus dem Wagen gehoben und in einen Raum mit hektisch durcheinanderwuselnden Leuten gerollt, die sie an die verschiedensten Apparate anschlossen. Sauerstoff, Herzfrequenz, Blutdruck … was weiß ich …
    Ich versuchte, nicht darauf zu achten, sondern mich ganz auf Tibby zu konzentrieren. Ich stand am Kopfende und redete auf sie ein, sagte irgendwelche Dinge, die mir gerade einfielen, redete von Whisky und Wodka, von dem Auto, das sie mir im Kindergarten auf den Kopf gehauen hatte, von Freds Wutanfällen, von Tarik, der nach ihr gefragt hatte, von Jeske und Lianne und von duftenden Äpfeln im Schlafrock. Ich sagte, was mir gerade in den Sinn kam, und hoffte, es wäre etwas dabei, das ihr nicht vollkommen egal war.
    Bei den Äpfeln flatterten ihre Lider. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, aber ich war unendlich froh über diese kleine Regung, so froh, dass ich zu heulen anfing, und ich sagte, sie sei mir ungeheuer wichtig und dürfe mich jetzt nicht verlassen.
    Währenddessen flitzten Weißkittel mit Schläuchen, Nadeln, Sauerstoffmasken und Infusionsbeuteln um mich herum – »Würden Sie bitte zur Seite gehen?«
    Eine resolute Krankenschwester mit einem Klemmbrett in der Hand begann, mich über Tibby auszufragen. Sie brauchte Name, Adresse und Nummer und wollte wissen, wo und wie die Eltern zu erreichen seien. Und ob ich ihre Karte hätte. Wegen der Nummer …
    Tibbys Adresse fiel mir gerade noch ein und ihre Nummer war zum Glück in meinem Handy gespeichert. Ich vertippte mich ein paarmal, bevor ich sie endlich fand. Doch dann meinte die Schwester säuerlich, es gehe um die Versicherungsnummer.
    »Die weiß ich nicht.« Wieder kamen mir die Tränen.
    »Sie muss doch irgendwo …«
    Eine ruhige Männerstimme unterbrach sie: »Das hat doch wohl auch noch bis später Zeit.«
    Es war Easy.
    Er nahm mich in die Arme. Die Schwester mit dem Klemmbrett verzog sich. Kurz darauf kam sie wieder und gab mir einen Becher Kaffee. Schwarz mit viel Zucker.
    Und dann saß ich mit Easy im Flur.
    Wir hielten uns an den Händen und warteten. Seine Hand war eiskalt.
    Es kam mir vor, als wäre alles ein Traum gewesen. Ein Traum von einem Märchenhaus mit Bratäpfeln, Zimt und duftendem Geißblatt, ein Traum von Katzen und Musik und wildem Glück und Freiheit,

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