Flüsterherz
aufrichtig leid.«
»Danke«, sagte ich. »Gleichfalls, Herr van Dijk.« Das heißt, ich wollte es sagen, brachte aber nur ein klägliches Schluchzen zustande.
Pa legte den Arm um mich und wir gingen zusammen aus dem Raum, über den schwarz-weißen Fliesenboden, zum Ausgang, nach Hause.
Wenn ich eins gelernt habe, dann das: Es kommt immer dann, wenn man nicht damit rechnet
.
Diese einfache Erkenntnis muss ich aufschreiben, in mein Flüsterbuch. In Großbuchstaben. Nur diesen einen Satz, mehr nicht: Es kommt immer dann, wenn man nicht damit rechnet
.
Aber bevor ich auch nur einen Buchstaben aufs Papier bringe, lachen die Seiten mich aus, lachen mir ins Gesicht
.
»Wenn es kommt, wenn man nicht damit rechnet«, flüstern sie, »was hat es dann für einen Sinn, das aufzuschreiben? Lass es los.«
Lass es los
.
Lass los
.
Lass los
.
Ich muss unwillkürlich lächeln
.
Lass los?
Auf einmal weiß ich, wie
.
Die Leere akzeptieren und hinhören
.
Mehr nicht
.
Nach Tibbys Tod war alles leer. Es waren die leersten Tage meines Lebens. Ich konnte nichts sagen. Nicht darüber schreiben. Tibby war fort. Ich lebte
.
Ich lebte weiter, all die leeren, leeren Tage
.
In meinem Kopf herrscht noch immer Stille, die Seiten des Flüsterbuchs sind noch immer unbeschrieben, aber ich spüre wieder etwas
.
Ich spüre, wie leer damals alles war
.
Im Bauch, in den Knochen
.
3
Das Wochenende zog wie in Trance an mir vorbei.
Easy rief an und fragte, ob ich mit ihm spazieren gehen wolle. Vielleicht in Den Haag, am Meer. Oder, wenn ich dazu keine Lust hätte, ein Stück am Krummen Rhein entlang.
Als er das vorschlug, flippte ich fast aus.
Er kam aber trotzdem, was ich sehr lieb fand. Wir redeten wenig, sahen eine Weile fern und spielten dann
Siedler von Catan
. Pa und Ma machten mit.
Eileen rief an, später auch Jeske und Lianne. Und sogar Tarik. Er heulte am Telefon. Damit hatte ich nun überhaupt nicht gerechnet.
Ich selbst weinte nicht. Es war, als müsste alles, was andere zu mir sagten, eine dicke Watteschicht durchdringen, bevor es ankam, so taub fühlte ich mich. Mit Sicherheit gab ich lauter unpassende Antworten.
Am Montag hätte ich zu Hause bleiben können, aber ich wollte lieber in die Schule. Bei meinen Freundinnen und bei Easy sein. Ich wollte sie alle sehen.
Wir hatten keinen regulären Unterricht, sondern redeten in der Klasse über das, was passiert war, schrieben Gedichte oder zeichneten.
Es war ganz seltsam ohne Tibby. Sie hatte zwar oft gefehlt, aber erst jetzt wurde mir so richtig bewusst, dass sie nie mehr wiederkommen würde.
Irgendwie fühlte ich mich im Stich gelassen, aber zum Glück war ich nicht allein. Meine Freundinnen waren da, undallen in der Klasse ging Tibbys Tod sehr nah, egal, wie gut oder schlecht sie sie gekannt hatten.
Eileen setzte sich neben mich. »Ach, dass das passieren musste«, sagte sie. »Es macht alle total fertig.«
»Gut, dass ich dich hab«, sagte ich. Und obwohl ich mich noch immer taub fühlte, meinte ich genau das, was ich sagte.
JP hatte einen Raum zum Gedenken an Tibby herrichten lassen. In der großen Pause gingen wir alle hin. An der Wand hing ein Foto von ihr, davor brannte eine dicke blaue Kerze. Ein Fotoalbum lag da und ein Buch, in das wir unsere Gedichte einkleben oder etwas schreiben konnten. Man konnte auch Briefe oder Karten an eine Pinnwand heften. Sie war schon ziemlich voll. Manche hatten Zeichnungen aufgehängt, andere Fotos oder Zitate.
Auch ein Traumfänger war dabei, mit einer Karte:
Tod ist ein langer Schlaf
Schlaf ist ein kurzer Tod
Friedrich von Logau
Träum schön. F. de Wit
So etwas Schönes wollte ich auch gern für Tibby in das Buch schreiben, aber ich kam nicht weiter als
Hi, Tibsy …
Eileen schob mir eine Taschentuchbox hin. Man hatte wirklich an alles gedacht. Tibby wäre sprachlos gewesen, wenn sie das hätte sehen können.
»Ich bleib noch ein bisschen, okay?«, sagte ich.
»Ja, klar.«
Aber kaum waren die anderen fort, waren auf einmal auch meine Tränen fort. Ich verstand mich selbst nicht mehr.
Am Nachmittag fand eine Gedenkfeier statt. Wie sie genau ablief, ging an mir vorbei, aber die Atmosphäre werde ich nie vergessen. Wir waren zusammen. Traurig und geschockt, aber zusammen.
Ich saß neben Easy und wir hielten uns fest an der Hand. Ich brauchte nichts zu sagen. Hätte es auch gar nicht gekonnt. Meine Kehle war zu Eis gefroren.
4
Dienstagnacht tat ich kein Auge zu, denn am Mittwoch sollte die Beerdigung sein. Es war
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