Flut
ihn für seinen älteren Bruder verlassen hat. Es kommt ihm völlig natürlich vor, mit ihr über die intimsten Dinge zu reden. Sein Verlangen nach ihr geht mit einem unbewussten Einklang einher, einer Symbiose, die sich unabhängig von dem entwickelt, was er will oder denkt. Jasmim ist der erste Mensch in seinem Leben, der weiß, was Gesichtsblindheit ist. Das sind Dinge, die sie an der Uni gelernt hat und über die sie mit unstillbarem Interesse Artikel im Internet liest.
Und wie erkennst du mich wieder?, fragt sie.
An deinen Haaren, deiner Hautfarbe, deinen Händen, zum Beispiel. Normale Menschen erkennen nie jemanden an seinen Händen, aber ich achte eben darauf. Nach dem Gesicht sind die Hände das Spezifischste an einem Menschen. Aber in deinem Fall ist das nicht nötig. Bei dir ist es einfach.
Es sollte ein Kompliment sein, aber sie wirkt nicht sehr geschmeichelt.
Weißt du, was ich glaube? Dass du bloß zu stolz bist, um die Leute zu fragen, ob ihr euch nicht kennt. Und das gibtdir so eine mysteriöse Aura. Du brauchst diese Distanz. Du strahlst so etwas Selbstgenügsames, Überlegenes aus. Wie ein Löwe auf dem Thron. Und gleichzeitig bist du so sanft. Ich werde einfach nicht schlau aus dir.
Sie krault seinen Kopf, bis er einschläft. Als er irgendwann aufwacht, sieht er sie auf dem anderen Sofa sitzen, sie schaut sich auf dem Computer einen Film an und kaut auf ihrem Daumennagel. Mit den englischen Dialogen im Ohr schläft er sofort wieder ein. Als er das nächste Mal aufwacht, liegt er auf seinem Bett. Er weiß nicht, wie er dort gelandet ist. Er steht auf und findet sie in eine Decke eingewickelt schlafend auf dem Sofa vor. Sie liegt auf dem Rücken, dreht sich aber zur Seite, als er ins Wohnzimmer kommt, vielleicht weil seine Schritte sie im Schlaf gestört haben. Offenbar findet sie keine bequeme Position, jedenfalls dreht sie sich noch mehrmals um, runzelt schließlich die Stirn und hält sich die gespreizte Hand vors Gesicht, als müsse sie sich auf ein ernstes Problem konzentrieren.
Erst Tage später, als sie in ihrem kleinen, zweistöckigen Häuschen, mitten im Dickicht an der Zufahrtsstraße zur Praia da Ferrugem, in der Nähe der Lagune, zum ersten Mal miteinander schlafen, findet er heraus, dass Jasmim den unruhigsten Schlaf hat, den man sich vorstellen kann. Sie bindet sich die Haare zusammen, damit die Locken am Morgen intakt sind, und wälzt sich dann vor dem Einschlafen eine halbe Stunde lang hin und her. Im Halbschlaf verheddert sich ihr eines Bein im Laken, während das andere ausschlägt, dann streicht sie das Laken über der Matratze glatt und seufzt und brabbelt dabei. Sie ist nicht unbedingt klein, aber anscheinend auch nicht groß genug, um all ihren Empfindungen eine Bühne bieten zu können. Wenn sie dann endlich schläft, erlösen die Träume sie von allen äußeren Reizen. Ihr Körper kommt zur Ruhe, und wenn man es am wenigsten erwartet, ändert sie plötzlich wieder die Position. Manchmal spricht sie im Schlaf, und er ist nicht sicher, ob sie es mitbekommt. Ichkann die Frösche hören. Hör mal. Ich will schlafen. Sie macht kurz die Augen auf, murmelt irgendetwas, vielleicht auch eine kurze Melodie von zwei oder drei Tönen, und schläft dann weiter. Im kleinen Schlafzimmer im zweiten Stock sieht es aus wie auf einem Dachboden, und sobald sie sich auszieht, breitet sich ein erdiger Zitrusduft aus, ein Duft, der im Nu das Bett überflutet und den ganzen Raum einnimmt, der aber mit ihr zieht, wenn sie aufsteht, um ins Bad zu gehen oder Kaffee zu kochen. Sie hinterlässt keine Spuren, und wenn sie geht, ist ihre Abwesenheit augenblicklich spürbar. Wenn sie bei ihm ist, wirkt sie friedlicher. Vielleicht beruhigt sie das Rauschen des Meeres. Er schläft eigentlich schnell ein, versucht aber wach zu bleiben, um sie schlafen zu sehen, ein Wüstentier in muffigen Laken. Bei der leichtesten Berührung wacht sie auf und will ihn umarmen, greift dabei aber fast immer ins Leere oder erwischt nur ein Kissen.
Ende Juli werden die Tage heller, und sie werden zwischen acht und neun wach. Vor der Arbeit gehen sie zusammen an den Strand, sie trinkt im Sand einen Mate und sieht ihm und der Hündin beim Schwimmen zu. Die Tage gehen einfach so vorüber, man kann sich weder daran erinnern, was gestern war, noch sich vorstellen, was der nächste Tag anderes bringen soll. Beim Sex kommen sie jedes Mal ungefähr gleichzeitig, danach liegen sie dicht beieinander, so dass sich ihre Nasen und
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