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Flut

Flut

Titel: Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Galera
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Er räkelt sich auf dem Sofa, blickt in die Neonlampe an der Decke und lässt den Genuss, ihr zuzuhören, kurz auf sich wirken. Ich rede zu viel, sagt sie. Erzähl mir von dir. Als er erwähnt, dass er am Ironman auf Hawaii teilgenommen hat, ist sie begeistert und will alles darüber wissen. Und wie war das so? Wie ist es auf Hawaii? Was esst ihr während des Wettkampfs? Wie trainiert man für so etwas? Er zeigt ihr seine Medaille, und sie hält sie vorsichtig in den Händen, als wäre sie zerbrechlich. Die ist nur dafür, dass man teilgenommen hat, versucht er zu erklären. Trotzdem, unglaublich. Wirst du es nochmal versuchen? Nee, nee, meine Zeit ist vorbei. Red keinen Unsinn. Versuch’s doch nochmal. Gibt es nicht Leute, die das mit fünfzig oder sechzig noch machen? Hier ist doch der perfekte Ort zum Trainieren.
    Ich weiß nicht, aber angeblich ist es der perfekte Ort, um glücklich zu sein, nach allem, was ich gehört habe.
    Jasmim guckt erstaunt, und er muss ihr erklären, dass es nur ein Scherz war, weil man ihm inzwischen schon so oft versichert habe, dass er hier glücklich würde. Die Leute wiederholen das ständig, als wollten sie dich und damit auch sich selbst davon überzeugen. Sie ist sichtlich irritiert, und er hat Angst, etwas Falsches gesagt zu haben, aber er weiß nicht, was. Komisch, dass du das sagst, erklärt sie schließlich, denn genau das ist das Thema meiner Abschlussarbeit. Hastdu noch Wein? Ich hab noch eine Flasche, aber keinen guten. Egal. Während er die Flasche öffnet, erzählt sie, dass sie sich für ihre Arbeit Garopaba ausgesucht hat, weil sie schon vorher die Theorie hatte, dass dieser Ort eine dunkle Seite hätte. In meinem ersten Jahr an der Uni hab ich den Sommer an der Praia da Ferrugem verbracht und bin damals aus reiner Neugierde im CAPES gelandet, dem Psychosozialen Zentrum von Garopaba. Eine junge Frau dort hat mir erzählt, dass die Rate psychischer Erkrankungen und der Konsum von Psychopharmaka in Garopaba enorm hoch seien. Jugendliche, die von zwei, drei verschiedenen Medikamenten abhängig sind. Mütter, die ihren dreijährigen Kindern Rivotril geben, um sie zu beruhigen. Sie meinte, es wäre am einfachsten, die Amphetamine, Beruhigungsmittel und Antidepressiva gleich ins Trinkwasser zu mischen. Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich hab dann eine Theorie über den Kontrast zwischen der Idee eines paradiesischen Lebens am Meer und der bedrückenden Alltagsrealität an diesem Ort entwickelt. Im Jahr darauf war ich während der Winterferien zwei Wochen hier und hab mit den Einwohnern und mit Ärzten und Sozialarbeitern gesprochen. Die Leute von außerhalb sehen das hier als einen Ort, an dem man seine kleine Pension eröffnet, surft und ein ganzheitliches Leben in einem Naturparadies führt. Wenn du aber mit den richtigen Leuten sprichst, erzählen sie dir von einer Crack-Welle und von Dealern, die sich gegenseitig umbringen. Von Leuten, die in Arztpraxen einbrechen, um eine Schachtel Valium zu klauen. Vom Tabu der Homosexualität und den Problemen, die dadurch entstehen. Die Schwierigkeiten im Privatleben. Die Ausbreitung von Aids. Das ist ein echtes Problem. Viele Fischer haben etwas miteinander, schützen sich nicht und stecken dann ihre Frauen an. Das wusstest du nicht? Da redet natürlich keiner drüber. Es passiert nur auf den Booten, wenn sie nachts rausfahren. Und in den etwas abgelegeneren Gemeinden wie Campo D’Una oder Encantada laufen echt seltsame Dinge. Schwierig. Michhat dieser Kontrast fasziniert. Aber als ich dann anfing zu forschen, Interviews zu führen und mir die Ergebnisse in Form von Zahlen und Tabellen anzusehen, wurde mir langsam klar, dass eigentlich alles ziemlich normal ist. Das Psychosoziale Zentrum hat zweitausend Leute in der Kartei und betreut aktiv etwa fünfhundert. Das sind fünf Prozent der Bevölkerung. Ganz normal, nichts Besonderes. Die Patienten haben dieselben Probleme wie in Porto Alegre, São Paulo, Manaus oder sonst wo. Das Besondere hier ist die Saisonabhängigkeit. Während der Sommermonate sind die Patienten weg, und im Winter kommen sie dann in Massen verstört zurück. Sommer bedeutet Euphorie und Geld. Die Leute sind zu beschäftigt, um zu leiden. Im Winter herrscht dagegen Langeweile und Perspektivlosigkeit. Und dann geht’s ab. Dieser Kreislauf ist das Schwierige. Ansonsten ist Garopaba so wie überall. Meine Freundinnen und ich sagen immer, wir leben im Alles-ist-so-furchtbar-Zeitalter. Diese Gesellschaft ist

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