Flut
Er schneidet ein paar Streifen Ingwer von einer Knolle und kaut darauf herum. Durchs Fenster beobachtet er einen Mann in Shorts und Kapuzenpulli, der von einem Stein aus mit einem Wurfnetz fischt. Drei, vier Mal holt er das Netz leer wieder ein. Er schließt die Fensterläden und das Fenster, fällt ins Bett und schläft ein.
Als es an der Tür klopft, wacht er erschrocken auf. Beta bellt. Er öffnet die Tür einen Spalt und sieht, wie Jasmim ihren Regenschirm schließt und mit mehreren Plastiktüten im Arm auf ihn zu tritt. Sie stellt alles auf den Tisch, streift den nassen Rucksack ab und schaut sich wie ein Detektiv in der Wohnung um.
Ich hab gehört, du brauchst einen Babysitter.
Sie legt die Hand auf seine Stirn. Er dreht den Kopf leicht zur Seite, niest und geht die Klopapierrolle holen.
Hast du Fieber gemessen?
Nein.
Hast du ein Thermometer?
Nein.
Deine Stirn ist ganz schön heiß. Nimm das hier, das senkt das Fieber. Ich hab dir auch Vitamin-C-Tabletten mitgebracht, ich stell sie hier hin.
Während er beobachtet, wie sich die Brausetablette sprudelnd im Wasser auflöst, holt sie ein Notebook aus ihrem Rucksack, stellt es auf den Tisch, öffnet den Deckel und geht zur nächsten Steckdose.
Vorsicht, da kriegt man leicht …
Jasmim schreit auf und macht einen Satz rückwärts.
… einen Schlag. Du musst die Erdung in das obere Loch stecken. Warte mal.
Er steckt den Adapter und den Stecker richtig zusammen. Sie schaltet den Computer ein, und während er hochfährt, wissen beide nicht recht, was sie tun sollen. Sie tippt ein Passwort ein, wartet kurz, fährt über das Touchpad und klickt ein paar Mal. Aus den Mini-Lautsprechern erklingt Musik.
Kennst du die Kings of Convenience?
Nein.
Die sind gut, schön ruhig. Hast du ein vernünftiges Messer?
Was willst du kochen?
Suppe für einen Sterbenden.
Sie schaltet das Licht in der Küche an und öffnet diverse Schränke, bis sie einen großen Topf gefunden hat. Er zieht die Besteckschublade auf und holt das Messer von seinem Vater raus.
Das ist das schärfste.
Sie spült kurz den Topf aus und wäscht das Geschirr ab, das in der Spüle steht. Dann packt sie die Plastiktüten auf der Arbeitsfläche aus. Heraus kommen eine Styroporschale mit Hühnchenstücken, ein Kohlkopf, Zwiebeln, Kartoffeln, Karotten, eine Zucchini, ein halber, eingeschweißter Kürbis, Sellerie und eine Packung Hühnerbrühe.
Ich glaube, ich hab zu viel gekauft, aber ich mach Suppe am liebsten so, einfach alles in den Topf werfen. Hast du Knoblauch?
Er lässt sich aufs Sofa fallen und sieht Jasmim zu, wie sie das Gemüse schneidet, Wasser aufsetzt und die Zutaten im Topf anbrät. Sie singt einzelne Passagen der Lieder mit, wiegt manchmal den Kopf und wippt mit den Schultern.
Passiert das gerade wirklich?
Was?
Dass du in meiner Küche stehst und kochst?
Sie setzt sich zu ihm aufs Sofa und zieht die Knie an, ohne etwas zu sagen. Gierig kaut sie an ihrem Daumennagel, dreht sich zu ihm um, sieht ihm kurz in die Augen und dreht sich dann wieder weg. Ihr Atem vermischt sich mit der Musik, den Geräuschen der Wellen und der köchelnden Suppe.
Pass mit deinem Daumen auf, sonst ist er gleich weg.
Sie lacht, schiebt die Hand unter den Arm und dreht sich zu ihm.
Hör mal, können wir versuchen, nicht darüber zu reden?
Worüber?
Darüber, dass ich hier bin. Darüber, dass wir uns kennengelernt haben, und über das, was von jetzt an noch zwischen uns passieren könnte. Lass uns einfach versuchen, nicht drüber zu reden. Und nicht zu fragen, ob irgendwas tatsächlichpassiert, und aus welchen Gründen, und ob es so oder so sein wird. Oder wissen zu wollen, was der eine gerade fühlt und was der andere gerade fühlt. Ich weiß, das klingt bescheuert, aber so was zieht mich runter. Reden macht alles kaputt. Sobald man die Dinge ausspricht, sind sie vorbei.
Sie lehnt ihren Kopf an seine Schulter. Etwas später serviert sie die Suppe mit aufgebackenen Brötchen, und nach dem Essen zeigt sie ihm Fotos auf ihrem Notebook. Ihr Vater ist Anwalt und Abgeordneter der Kommunistischen Partei, ihre Mutter betreibt ein Restaurant in Tristeza, einem Stadtteil von Porto Alegre, in dem sie groß geworden ist und in dem die Familie immer noch lebt. Sie zeigt ihm alte Fotos von einem Strandhaus in Tramandaí, von ihrem fünfzehnten Geburtstag und von ihrem Schulvolleyballteam. Nachdem sie die Geschichte vom Selbstmord seines Vaters schon kennt, erzählt er ihr jetzt, dass die Frau, die er geliebt hat,
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