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Flut

Flut

Titel: Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Galera
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einfach nicht darauf vorbereitet zu leiden, oder sie ist sich dessen zu sehr bewusst. Je mehr der Einzelne über seine Probleme weiß und sich deswegen behandeln lässt, desto mehr empfindet er sie auch und hält gleichzeitig die der anderen für übertrieben. Wie anmaßend von mir, zu glauben, ich könnte die Wahrheit hinter dem äußeren Schein erkennen. Meine Prämisse war ziemlich arrogant. Das Glück hier ist total echt, genauso echt wie das Unglück. Die Schönheit ist so echt wie der Verfall. Ich dachte, es stecke ein Geheimnis dahinter, weißt du? Aber es gibt kein Geheimnis. Meine Arbeit hat mir meine Hypothese nach und nach widerlegt. Ich könnte natürlich genau das zum Fazit meiner Arbeit machen, aber irgendwann habe ich die Lust an dem Projekt verloren. Und jetzt bleiben mir noch fünf Monate, um die Sache abzuschließen, aber am liebsten würde ich eigentlich einfach nur weiter im Tourismusbereich oder in irgendeinem Laden arbeiten, und alles ist gut, weißt du? Es heißt, von Nahem betrachtet ist das Leben aufregender. Man muss in die Dingeeintauchen. Bei mir ist es andersrum. Von Nahem betrachtet erscheint mir immer alles so banal. Ich glaube, ich bin nicht ganz normal. Aber jetzt hör ich auf, dich mit meinen Problemen vollzuquatschen. Manchmal kann ich einfach nicht aufhören zu reden. Ich höre dir gern zu, sagt er. Zum ersten Mal ist etwas Zärtlichkeit in ihrem Blick, und ihre Lippen öffnen sich mit einem leisen Schnalzen. Es kommt nicht oft vor, dass ich jemandem mein Herz ausschütte. Ich lebe eher zurückgezogen. Ich auch, sagt er. Du bist ein merkwürdiger Typ. Normalerweise schnall ich immer sofort, wie die Leute ticken, aber bei dir hab ich keine Ahnung, woran ich bin. Du scheinst überhaupt keine Ambitionen zu haben. Und aus deinem Gesicht werde ich auch nicht schlau. Seltsam. Ich weiß nicht, ob mir das gefällt. Sie trinkt ihr Glas aus und sagt, dass sie losmüsse, aber betrunken sei. Du kannst hier schlafen, wenn du willst. Nimm das Schlafzimmer, ich bleib im Wohnzimmer. Sie seufzt. Nein, ich will nach Hause. Ich sollte zwar nicht mehr fahren, aber ich tue es trotzdem. Er bringt sie zu ihrem Motorrad, das oben an der Straße steht. Auf der Mauer sitzt eine schwarze Katze und beobachtet die beiden mit glänzenden Augen. Während sie sich auf ihr Motorrad setzt, sagt er, dass er pausenlos an sie gedacht habe. Sie küsst ihn auf die Wange und zieht ihn zärtlich am Bart. Nachdem sie den Helm aufgesetzt hat, holt sie ihr Handy hervor und lässt es einmal bei ihm klingeln. Ruf mich an, sagt sie. Aber du solltest dich besser nicht in mich verlieben. Ich kann niemanden wirklich mögen. Trotzdem, es ist schön, mit dir zu reden. Na ja, wir werden sehen. Sie startet das Motorrad und saust los. Er geht runter in die Wohnung und speichert dabei ihre Nummer im Telefonbuch. Danach schickt er seiner Mutter eine SMS, sie soll zwei Kilo Mate vom Mercado Público in Porto Alegre mitbringen. Grünes Blatt gemischt mit Ximango.
    Am nächsten Morgen hat er Halskratzen und Gliederschmerzen. Er kann sich nicht aufraffen, Beta zum Schwimmen zu bringen, und schläft unter dem Protestgebell der Hündin wieder ein. Mittags steht er mit laufender Nase und Schüttelfrost auf und geht zur Arbeit. Am Nachmittag, als er vor Fieber zittert, schickt ihn Débora nach Hause. Den wenigen Schülern, die an den Winternachmittagen zum Training kommen, hinterlässt er an der Tafel Instruktionen. Er hält an der nächsten Apotheke und kauft etwas gegen Erkältung. Die Luft ist so diesig, dass man von den Hügeln nur die Umrisse erkennt. Nirgends sind Fußgänger zu sehen, und die wenigen Autos, die unterwegs sind, stehen mit eingeschalteten Scheinwerfern an der Kreuzung. Die Stadt zieht sich im Nieselregen vor der Kälte zurück. Er spürt den eisigen Wind in den nassen Sachen. Als er in der Rua dos Pescadores vor dem Touristikbüro vom Fahrrad steigt, kommt Jasmim an die Tür.
    Super Tag, um durch den Regen zu fahren. Willst du damit irgendjemandem etwas beweisen?
    Ich bin auf dem Nachhauseweg, ich hab starkes Fieber, sagt er schniefend.
    Woher wohl.
    Wenn es mir Freitag besser geht, gehen wir dann zum Japaner?
    Fahr nach Hause.
    Er duscht und zieht mehrere Schichten Klamotten an. Er macht sich einen Früchtetee mit heißer Zitrone, nimmt eine Tablette und trinkt dann den Tee in kleinen Schlucken. Beta bleibt in ihrem Hundebett liegen. Er schnäuzt sich, bis die Nasenflügel brennen und sein Bart voller Klopapierfussel ist.

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