Flut
Höllenlärm hier an lebhafteren Tagen herrschen muss.
Ricardo greift weder ein noch erklärt er irgendetwas, er begleitet ihn einfach durchs Haus. Er wirkt ungeduldig. Als sie rausgehen, fragt er ihn in einem nachlässigen Gemisch aus Spanisch und Portugiesisch, warum er nach Garopaba ziehen will. Als er sagt, dass er vor allem am Strand wohnen wolle, erwidert der Argentinier, ja, klar, alle wollen am Strand wohnen, aber warum wolle er das? Da er wie die meisten Gaúchos Argentiniern grundsätzlich misstraut, ignoriert er die Frage.Nachdem Ricardo die Tür abgeschlossen hat, will er wissen, ob er surfe. Er verneint. Dann fragt er, ob er vorhabe, Surfen zu lernen. Er verneint. Schließlich fragt er, ob er ein Geschäft aufmachen wolle. Bisher nicht. Der Argentinier mustert ihn aufmerksam.
Dann ist es una mujer .
Was?
Die Leute kommen entweder wegen el surf oder um eine Frau zu vergessen, solo eso .
Ich will nur am Strand wohnen.
Sí, sí. Sicher.
Wie lange wohnen Sie schon hier?
Fast zehn Jahre.
Und warum sind Sie hergekommen?
Um una mujer zu vergessen.
Und, hat’s geklappt?
Nein. Wollen Sie das Haus mieten?
Nein. Ist mir zu dunkel.
Dunkel. Stimmt. Dunkel ist es. Bueno . Viel Glück.
*
Er parkt den Wagen in der Garage des Hotel Garopaba und legt dreißig Reais drauf, damit sie wegen Beta ein Auge zudrücken. Während es draußen dunkel wird, liegt er im Bett und schlummert vor sich hin. Zwei Mal wird er von einem Anruf gestört, beide Male versucht er, es möglichst kurz zu machen, da sein Handy aus Porto Alegre ist und das Roaming sein Guthaben auffrisst. Seine Freunde wünschen ihm alles Gute zum Geburtstag und viel Kraft, um über den Verlust des Vaters hinwegzukommen, sie wissen nicht, dass er nicht mehr in Porto Alegre wohnt, dass er weg ist und kaum jemandem Bescheid gesagt hat, und es auch jetzt nicht tut, weil er weiß, dass er weder Antworten noch Geduld für die Fragen hat, die sie ihm stellen würden.
Als er aufwacht, hat er Hunger und das Gefühl, eingesperrt zu sein. Er lässt den Hund mit Futter und Wasser im Zimmer zurück und macht sich auf die Suche nach einem Restaurant. Auf dem Stadtplan trägt er die Position relevanter Orte und Personen ein, eine Vorsichtsmaßnahme gegen sein pathologisches Vergessen, mit dem er seit der Kindheit zu kämpfen hat. Er kommt an zwei Bars vorbei, die Sandwiches auf der Karte haben, und an einem Selbstbedienungsladen, der Eis und wechselnde Tagesgerichte verkauft. In einer Pizzeria an der Hauptstraße ist Aktionswoche. Die hübschen runden Holztische sind fast alle besetzt, im Licht bunter orientalischer stern- und vasenförmiger Lampen gleiten drei Kellnerinnen entspannt an den Gästen vorbei. Er setzt sich draußen an einen Zweiertisch auf ein gemütliches Sofa direkt an der Wand. Seine Kellnerin ist groß und dunkelhaarig, ihre Haut pellt und die Oberlippe ist leicht aufgeworfen. Das krause Haar geht ihr bis knapp über die Schultern. Da er sie wahrscheinlich allein an ihren Locken wiedererkennen wird, richtet er den Blick auf ihr ovales Gesicht und die mandelförmigen Augen. Manchmal fragt er sich, ob Frauen in den Augen anderer Männer genauso schön sind wie in seinen, und insgeheim hegt er den Verdacht, seine Unfähigkeit, sich Gesichter mehr als ein paar Minuten lang zu merken, könnte ihnen eine besondere Ausstrahlung verleihen, die außer ihm niemand so wahrnimmt. Gerade weil Schönheit so flüchtig ist, hat er gelernt, sie überall zu sehen. Diese hier jedoch dürfte jeder erkennen. Sie ist es gewohnt, so angesehen zu werden, und erwidert seinen Blick mit einem förmlichen Lächeln, einer Mischung aus Höflichkeit und Langeweile. In einem für die Gegend typischen fragenden Tonfall, durchsetzt mit einer Spur Sarkasmus oder auch Unverständnis, erkundigt sie sich, ob er das Pizza-Buffet will.
Sind das dieselben Pizzas wie auf der Karte?
Wie jetzt?
Ob dieselben Zutaten drauf sind wie bei den Pizzas vonder Speisekarte. Oder ob der Käse beim Buffet vielleicht nicht so gut ist.
Sie lacht.
Unter uns gesagt, der Käse ist nicht so gut.
Okay. Dann also kein Buffet. Heute ist mein Geburtstag. Ich hätte gern eine halbe Margerita und eine halbe Peperoni, bitte.
Echt? Dein Geburtstag? Herzlichen Glückwunsch!
Sie kaut auf einem Kaugummi, das sie vorher irgendwo im Mund versteckt hatte.
Und ein Bier.
Sie notiert seine Bestellung und entfernt sich. Nach einiger Zeit kommt sie mit dem Bier zurück. Wieder mustert er aufmerksam ihr
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