Flut
Gesicht.
Du solltest dein Haar zusammenbinden.
Bitte?
Es sieht schön aus so offen. Aber ich hab mir gerade vorgestellt, wie es aussähe, wenn es festgesteckt wäre. Noch nie ausprobiert?
Doch, manchmal.
So verdeckt es ein bisschen dein Gesicht.
Das soll es auch.
Leicht verlegen zieht sie ab, und er trinkt zügig und zufrieden sein Bier.
Später schlendert er mit vollem Bauch durch Haupt- und Seitenstraßen und markiert auf dem Stadtplan ein Café, einen Eisenwarenladen, eine Express-Reinigung und ein uruguayisches Grillrestaurant, bis ihm klar wird, dass ein Großteil der Geschäfte nur übergangsweise existiert und je nach Saison auf- und wieder zumacht. Bei näherem Hinsehen stellt er fest, dass viele Läden schon nach Karneval geschlossen haben, einige Fensterscheiben sind mit Pappe abgeklebt. Ein handgeschriebenes Schild in einer Eisdiele weist darauf hin, dass der Betrieb den Winter über in einer anderen Straße fortgesetzt wird. Alles, was nicht Sommer ist, istWinter. Die Reinigung öffnet erst wieder im Dezember, wie ein anderes Schild mitteilt. Ein Buchladen, ein Minimarkt und diverse Boutiquen scheinen prinzipiell noch geöffnet, heute aber bereits geschlossen zu haben, und in einem Internetcafé werden gerade die letzten Gäste rausgeworfen. In den Schnellimbissen trinken Leute Bier, und auf dem Supermarktparkplatz steht ein Hot-Dog-Stand, vor dem die Kunden auf Plastikhockern ihr Essen verzehren. Der europäisch gehaltene Pub ein Stück weiter heißt Al Capone. Jugendliche sitzen auf dem Rasen vor unbewohnten Ferienhäuschen, rauchen und rufen durcheinander. Er läuft durch die Hauptstraße zurück zum Strand und bleibt vor dem Bauru Tchê stehen, einem Schnellimbiss in Form eines Wohnwagens mit einer Plane über einigen Metalltischen der Biermarke Brahma. Er setzt sich und bestellt ein Bier. Auf einem kleinen Fernseher auf dem Tresen läuft MTV, eine Dokumentation über Pantera. Phil Anselmo schlägt sich mit dem Mikrofon gegen die Stirn, bis es blutet, während Dimebag Darrell ein Solo spielt. Ein Betrunkener unbestimmten Alters und ein dicker Jugendlicher starren auf den Bildschirm. An einem anderen Tisch trinken ein älterer Mann und zwei Jungs mit Baseballkappen Bier, sie sehen aus wie Einheimische. Der Ältere sitzt entspannt auf seinem Stuhl und redet, die Jüngeren hören zu.
Neunzig Prozent alles Bösen auf der Welt wird von Armen verübt, die von Reichen bezahlt werden, sagt er. Die Jungs nicken zustimmend.
Ein zirka Zehnjähriger, der Sohn des Besitzers, kommt zu ihm und wischt unnötigerweise den Tisch ab. Er fährt übertrieben oft mit dem Tuch hin und her, hebt die Bierflasche hoch und stellt sie wieder hin. Er bedankt sich. Der Junge sagt Bitte und läuft zurück zum Tresen.
Der Junge bettelt förmlich um Arbeit, sagt der Vater. So was hab ich noch nie erlebt.
Der Akzent des Alten am Tisch nebenan ist schwer zu verstehen, und die laut aufgedrehten Clips von Pantera sind da wenig hilfreich, aber jetzt erklärt er, der Staat schulde ihm zwei Millionen Reais. Seine beiden Zuhörer nicken wieder.
Der Junge kommt zurück und sieht ihn an.
Kennst du den Witz mit dem Billardtisch?
Nein.
Lass den Mann zufrieden, sagt der Vater, ohne den Blick von dem Geld zu nehmen, das er gerade zählt.
Was ist oben grün, hat vier Füße, und wenn es dir auf den Kopf fällt, bist du tot?
Ein Billardtisch?
Woher wusstest du das?, brüllt der Junge und läuft laut lachend zurück zum Tresen.
Lass ihn zufrieden, wiederholt der Vater.
Er trinkt noch zwei Bier, scherzt mit dem Jungen, hört dem Gespräch der Einheimischen zu und beobachtet die Passanten. Im Fernsehen wird Dimebag Darrell von einem geistig verwirrten Fan auf der Bühne erschossen. Als er aufsteht, ist er leicht angetrunken. Er zahlt bei dem Vater des Jungen, einem sympathischen, müde aussehenden Mann mit tiefen Augenringen und Dreitagebart.
Meiner Familie gehörte damals die Strandstraße in Porto Alegre, erzählt der Alte den beiden Jugendlichen mit Baseballkappen, als er geht. Das habe ich schriftlich. Die Jungen nicken.
Er läuft am Strand entlang zum Fischerdorf und zu seinem Hotel. Die Wellen krachen laut wie brechende Baumstämme. Er trägt seine Flipflops in der Hand und spürt den kalten Sand an den Füßen. Der Gedanke, dass der Tag zu Ende geht, beunruhigt ihn. Hinter dem Morro da Vigia, gesprenkelt mit den Lichtern von Häusern und Straßenlaternen, liegt die Leere, derentwegen er hergekommen ist. Aber dafür ist es
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