Flut
sitzen sie eine Weile lächelnd da.
Ey, Mann, spielst du Poker?
Hab ich schon ein paar Mal gemacht. Ist aber lange her.
Wir machen demnächst einen Pokerabend in der Pension, ich versuch gerade, die Leute zusammenzukriegen. Altair ist dabei, Diego von der Tankstelle und ein paar Typen von der Praia do Rosa. Das schockt total. Aber du musst gut ausgerüstet sein, die Runden dauern lange. Wir spielen Windelpoker. Du brauchst eine Packung Windeln.
Wie jetzt?
Windelpoker. Damit wir das Spiel nicht unterbrechen müssen, wenn jemand pinkeln muss.
Das meinst du nicht ernst. Das ist doch total krank.
Wir haben schon länger als einen Tag ohne Pause gespielt.
Und wenn einer scheißen muss?
Na ja, dann darf er aufstehen. Aber niemand muss beim Pokern scheißen, oder? Wenn, dann gehst du vor dem Spiel. Das ist eine Frage der Professionalität. Muss man schon ernstnehmen. Ich sag dir nächstes Mal Bescheid, du kannst dich schon mal drauf einstellen.
Als die zwölf Dosen leer auf dem Tisch stehen, verabschiedet sich Bonobo mit einem komplexen Ritual, das darin besteht, die Fäuste gegeneinanderzustoßen, dem anderen mit dem Handrücken leicht gegen die Brust zu schlagen und mit den Fingern zu schnippen. Dann umarmt er ihn.
Danke für das Geld. Auf dich kann man sich verlassen.
Kein Thema. Dafür sind Freunde da.
Ich geb’s dir bald zurück.
Wie gesagt, kein Thema. Wenn’s passt.
Und zieh dich nicht zu sehr zurück.
Mach ich nicht.
Ich mach mir ein bisschen Sorgen um dich.
Leck mich, Bonobo. Fahr nach Hause.
Später, nachdem der Käfer endlich angesprungen und das Brummen des Motors in der Ferne verhallt ist und die Hunde der Fischer aufgehört haben zu bellen und an ihren Ketten zu rütteln, öffnet er einen der Rucksäcke im Kleiderschrank und holt das Fotoalbum heraus. Er setzt sich auf den Boden und blättert darin. Es sind Fotos von seinem Vater, seiner Mutter, von Dante und von Viviane. Er nimmt ein Bild von seinem älteren Bruder und vergleicht es mit Bildern von sich selbst, um erneut festzustellen, wie unterschiedlich sie sind. Sein Bruder ähnelt eher ihrer Mutter. Er sieht Fotos von seiner ersten Freundin und von seiner Lieblingscousine, Melissa, die in Australien wohnt und von der er seit Monaten nichts gehört hat. Fotos von Kommilitonen aus der Uni. Triathlon-Kollegen. Er sieht sich die Bilder an und rät, wer wer ist. Manchmal irrt er sich sogar bei seinem Bruder oder bei seinen Eltern, aber die meisten Fotos kennt er auswendig, jedenfalls in diesem Album, dem wichtigsten, dem Katalog seiner familiären, sozialen und amourösen Bindungen. Auf einem Foto stehen fünf verschwitzte Sportler in der Nachmittagssonne mit ihren Rennrädern nebeneinander, im Hintergrundein Stück Strand und am rechten Rand die Ecke von einem Obststand, und jeder von ihnen hat eine andere Frucht in der Hand, Maísa eine Banane, Renato eine Scheibe Wassermelone, Breno eine Ananas, er selbst eine Orange, auf einem Küchenmesser aufgespießt, und Pedro, ganz rechts, eine Rispe roter Trauben. Es war eines ihrer letzten Trainingsrennen vor der Weltmeisterschaft auf Hawaii. Alle Fotos sind beschriftet, entweder auf der Rückseite, am unteren Rand oder direkt auf dem Bild. »PAPA«. »MAMA«. »PAPA UND MAMA«. »DANTE«. »VIVIANE«. »ICH UND VIVIANE«. »VIVIANE (2. VON RECHTS) UND FREUNDINNEN«. »DIE CLIQUE VOM CLUBE CAIXEIROS-VIAJANTES: RENATO, ICH, BRENO, MAÍSA, SANDRINHA, LEILA«, Arm in Arm am Wasser und der lächelnde »PEDRO« im Schwimmbecken, mit einem Pfeil, der auf sein Gesicht zeigt. Es gibt drei Fotos von ihm, und auf allen steht »ICH«.
Tausende von Leuten treffen sich am zweiten Mittwoch im Juni an einem bitterkalten Abend auf dem Marktplatz zur Eröffnung der XI. Kirmes von Garopaba mit einem Auftritt des Sertanejo-Duos Gian & Giovani. Ihre Lieder wurden in den lokalen Radiosendern rauf und runter gespielt, und eines davon erklingt jetzt lautstark aus dem Mund eines zirka fünfjährigen Mädchens, das auf den Schultern seines tanzenden Vaters sitzt. Der Platz selbst verschwindet unter der Menschenmenge, der Nebenbühne, der Hauptbühne mit den grünen, roten und blauen Scheinwerfern und den zig Ständen mit Kunsthandwerk, Glühwein, Fisch und allen möglichen Leckereien und Getränken. Es riecht nach Karamell, gebratener Meeräsche, Frittiertem, Zigaretten, nasser Erde, mentholhaltigem Parfüm und heruntergetretenem Rasen. Die ganze Stadt ist da. Kleine Kinder klettern auf Bäume, lassen ihre Beine
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