Flut
zwanzig Minuten alleingelassen in der Kälte. Eine Frau spricht ihn an und nennt ihn Schwimmlehrer, es könnte Ivana sein, was sich bestätigt, als sie gleich darauf einen Scherz über das Training am Vortag macht. Ivana ist mit ihrem Mann da, sie tauschen ein paar Belanglosigkeiten aus, während vorne Bauchtanz aufgeführt wird. Die männlichen Zuschauer streiten sich um die besten Plätze. Die zweite Tänzerin stellt die Göttin Lakshmi dar, aber der Ansager schafft es nicht, den Namen richtig auszusprechen. Nach mehreren Versuchen gibt er es auf und weist nur noch darauf hin, dass sie den »Tanz der Göttin« aufführe. Damit ist das Programm auf der Nebenbühne beendet, und Ivana und ihr Mann verabschieden sich, um woanders hinzugehen. Auf der Hauptbühne startet die große Talentshow von Garopaba. Er ist inzwischen beim dritten Glühwein und beschließt, einen Burger zu essen. In der Schlange erkennt er den Hoodieman an den Haarbüscheln, die über seinem Kragen herausgucken. Er hat nur ein paar Wochen durchgehalten, macht jetzt aber Pilates und ist begeistert. Danach geht ihnen der Gesprächsstoff aus, also entschuldigt er sich, um sich die Show anzusehen. Als er sich wieder in die Menge begibt, beendet gerade eine örtliche Power-Metal-Band namens Reflexos Aleatórios ihren kurzen Auftritt mit einem Feedback- und Trommelgewitter. Unmittelbar darauf kommt ein höchstens zehnjähriges Mädchen auf die Bühne, spielt mit erstaunlicher Sicherheit ein Lied von Sérgio Reis auf dem Akkordeon und singt dazu mit dünner, aber reiner Stimme. Sie erntet frenetischen Applaus.
Die drittletzte Attraktion vor der Sambagruppe Turma do Pagode und dem sehnsüchtig erwarteten Schlagerpop-Duo Claus und Vanessa ist ein nativistischer Sänger namens Índio Mascarenhas. Der Mann, der jetzt die Bühne betritt, dürfte etwas über sechzig sein. Er trägt eine schwarze Pumphose, braune Stiefel, ein rotes Halstuch und einen Gaúcho-Hut. Schon von Weitem springen ihm seine groben Züge und die massige Kinnlade ins Auge. Die tiefen Falten erweisen sich im Lichtstrahl als Narben. Die große, poröse Nase und die Ohren sind auffallend knorpelig. Seine Haut hat die Farbe und auch die Maserung von Holz. Es gibt keine Band, der Mann ist alleine mit seiner Gitarre. Statt zu singen, hält er erst mal eine endlose Rede über seine künstlerische Laufbahn.
Ich singe Lieder aus meiner Heimatstadt Uruguaiana. Hier kennt ihr diese Art von Musik in einer tanzbareren Version. Entschuldigt bitte, aber dagegen bin ich ein Wilder. Ich trage einen anderen Hut als ihr, meine Krempe ist breiter. Vor meinem Haus steht eine Kirche, auf der einen Seite die Bar und auf der anderen das Bordell, und ich fühle mich in allen dreien wohl.
Das Publikum interessiert sich nicht sonderlich für seine Ausführungen und zerstreut sich bald. Ein paar Jugendliche rufen dazwischen. Aber etwas an diesem Sänger fasziniert ihn, und er nähert sich dem Bühnenrand. Die Litanei dauert mehrere Minuten und ist egozentrisch und narzisstisch, andererseits aber auch aufrichtig und von rührender Naivität. Der Mann drückt sich grobschlächtig aus, wirkt dabei aber verletzlich. Sein Auftreten hat eine archaische Reinheit.Obwohl er während seines eintönigen Vortrags zu keinem Schluss kommt, gibt er sich auf einmal zufrieden und fängt an zu singen. Seine E-Gitarre ist verstimmt und viel zu laut, alles klingt unfreiwillig verzerrt. Índio Mascarenhas zupft die Seiten nicht, er fegt schnell und perkussiv darüber, während die Finger der linken Hand sich zu Akkorden krümmen, die der Melodie gerade mal den nötigsten Halt geben. Er hat eine tiefe, schöne Stimme, aber nichts Außergewöhnliches. Es sind seine Haltung und seine Spielweise, die ihn in den Bann ziehen. Sein Vater hatte diverse Schallplatten mit Gaúcho-Musik, und als Kind kannte er viele Klassiker, aber diese ursprüngliche, halb improvisierte Musik ist anders als alles, was er bisher gehört hat.
Nachdem das erste Stück vorbei ist, nimmt Mascarenhas den verhaltenen Beifall und einige Pfiffe entgegen und lässt dabei den Blick über sein Publikum schweifen, bis er plötzlich erschrocken zurückweicht. Der Sänger starrt ihn aus zugekniffenen Augen an, reißt sie dann auf und hebt die Augenbrauen, als hätte er soeben ein Gespenst erblickt.
Nach dem Auftritt entdeckt er den Mann mit Pumphose und Halstuch auf den Tresen eines Getränkestandes gestützt und geht auf ihn zu. Er trinkt Zuckerrohrschnaps aus einem
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