Flut
herunterbaumeln wie abgestorbene Zweige und verfolgen das Spektakel über die Köpfe von Jugendlichen, Hand in Hand stehenden Paaren und in Formationenanrückenden Familien. Einige tragen ihre besten Kleider und Anzüge. Schwere Ohrringe und goldene Uhren glitzern im Dunkeln. Abgeordnete, Krüppel, Ärzte, Polizisten, Fischer, Sportler, Paare mit Kinderwagen, Ganoven, Touristen. All die Verrückten sind da, im Tumult fallen sie nicht weiter auf. Und auch die Gelangweilten, die, die bei dem Lärm nicht schlafen können, und die, die sich missbilligend oder verständnislos umsehen. Alle.
Er geht allein mit einem Glas Glühwein herum und trinkt in kurzen, schnellen Schlucken, teils, weil es ihn nervös macht, sich inmitten all der Leute zu bewegen, die er kennt, aber nicht erkennt, und teils, weil die Kälte das dampfende Gemisch aus süßem Wein, Zucker, Zuckerrohrschnaps und Nelke innerhalb von Minuten abkühlen lässt. Einer der Sänger, er weiß nicht, ob es Gian oder Giovani ist, fordert zwischen zwei Stücken alle Verliebten auf, die Hände zu heben und laut zu rufen. Offenbar sind alle verliebt. Er sieht die Kinder auf dem Spielplatz rutschen und unter den Blicken und Blitzen der Kameras ihrer Eltern in einem winzigen Riesenrad fahren. Einige lächeln und reden mit ihren Kindern, andere träumen vor sich hin. Jede Kabine ist ein geschlossener kleiner Plastikkäfig, jeder in einer anderen Farbe, und die Kinder darin wirken verängstigt, todmüde oder, so seltsam es auch scheinen mag, sich ihrer Situation bewusst. Die Kleinen hüpfen auf Trampolinen herum und flitzen lachend, brüllend und sich gegenseitig verfolgend durch aufblasbare Labyrinthe.
Als jemand seinen Namen ruft, dreht er sich vorsichtig um und fürchtet, die Person nicht zu erkennen. Es sind die Zwillinge Tayanne und Rayanne in Begleitung ihrer Eltern und einer befreundeten Familie, denen er gleich als ihr Schwimmlehrer vorgestellt wird. Sie müssen laut reden, um gegen die ohrenbetäubende Musik, das Stimmengewirr und das Knattern der Motorräder anzukommen. Gian und Giovani beenden ihre Show und rufen zwei Mädchen aus demPublikum auf die Bühne. Alle sehen hin. Die beiden dürfen die Künstler küssen und bekommen ein Handtuch von Gian & Giovani als Geschenk. Als die Gruppe etwas essen will, begleitet er sie zu einer Reihe von Imbissständen. Es gibt Hot Dogs, Sandwichs mit Steak, Fladenbrot mit Huhn und Käse, große Portionen Pommes frites und Würstchen in Scheiben. Er kauft ein Stück Kokoskuchen am Stand einer sozialen Einrichtung, deren Einnahmen ihrer Arbeit zugutekommen.
Irgendwann entdeckt er eine schulterlose Silhouette, die zu Bonobo gehören muss. Er steht Glühwein trinkend in roter Jogginghose und weißer Skijacke neben Altair und einem glatzköpfigen Surfertypen vor der Nebenbühne, auf der gleich der Auftritt einer Street-Dance-Gruppe stattfindet. Du fällst tot um, wenn du die Bräute siehst, sagt Altair, der eine glänzende Lederjacke trägt, eine Nelkenzigarette raucht und den süßlichen Qualm durch die Nasenlöcher ausstößt. Die Tanzgruppe präsentiert eine aggressiv-erotisierte Choreographie, die zu Technomusik die Ästhetik des Tango mit Filmszenen von Straßengang-Kämpfen vereint. Die schwarz-roten Kostüme bestehen aus hoch geschlitzten Röcken, Netzstrümpfen, Sakkos mit Blumen im Revers und Hüten. Die Frauen sehen wirklich toll aus, die Jungs sind sportlich gebaut, sie tanzen kraftvoll und athletisch, und die Leute applaudieren begeistert.
Nach der Show laufen die vier eine Straße weiter, wo der Verein der Frauen-im-Kampf-gegen-den-Krebs einen Stand zum Fest der Meeräsche aufgebaut hat. Die frischen Fische werden haufenweise auf den Grill geworfen und mit einem bunten Buffet von Beilagen auf einem echten Boot serviert. Sie bestellen zwei Fische, setzen sich an einen der Plastiktische und trinken ein paar Dosen Bier. Die Darbietungen gehen dem Ende entgegen, und die Touristen kehren zu ihren Klein- und Reisebussen zurück.
Am nächsten Morgen geht er nach Beta sehen. Die Operation ist gut verlaufen, aber Greice rät von einem Besuch abund verspricht anzurufen, sobald es so weit sei. Am Freitag läuft er frühmorgens mit seiner Gruppe am Strand, gibt nachmittags Schwimmunterricht, holt Pablo zum letzten Mal von der Schule ab und überweist Bonobo das Geld online im Internetcafé. Den Donnerstag- und Freitagabend verbringt er im Bett und lauscht bis spät in die Nacht dem Geschrei und der Musik von der Kirmes, die
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