Flut
Natur ihren Lauf.
Was macht die Herzensbrecherei?
Ich wollte dir nur Hallo sagen und dass Pablo zu Hause ist. Er hat sich beim Versteckenspielen einen Fingernagel rausgerissen, ist aber cool wie immer. Sie waren beim Arzt mit ihm, er hat einen Verband, es ist alles in Ordnung.
Aua. Der arme Junge. Ich ruf gleich mal meine Mutter an und rede mit ihm. Aber danke. Übrigens, gut, dass du da bist. Ich muss sowieso noch mit dir reden. Ab nächster Woche brauchst du ihn nicht mehr abzuholen. Ich geb den Job hier auf. Ich arbeite nur noch in der Boutique und kann ihn danach abholen.
Ach. Das sind ja Neuigkeiten. Gab es Probleme?
Nein, aber ich brauch keine zwei Jobs mehr. In der Boutique verdiene ich mehr. Außerdem ist es tagsüber. Aber danke für die Hilfe. Du bist ein Arschloch, aber auch ein Engel.
Das hat man auch über meinen Vater gesagt. Aber bei ihm war es andersrum. Du bist ein Engel, aber auch ein Arschloch. Und du hast so ein Glänzen in den Augen, das mir bekannt vorkommt.
Ich hab jemanden kennengelernt.
Schon?
Sie hält ihm den Mittelfinger ins Gesicht.
Ich wusste doch, dass da was ist. Sieht man dir irgendwie an. Jemand von hier?
Aus Florianópolis. Er ist fünfzig, aber lange nicht so spießig wie du.
Was macht er?
Er ist Bauunternehmer, Straßenbau und so. Was guckst du so komisch? Alle gucken komisch, wenn ich sage, wie alt er ist. Warum?
Ich hab komisch geguckt? Ich glaube, ich hab gar nicht geguckt.
Schon gut.
Ich wüsste nicht, was daran falsch sein sollte. Ich kenn den Typen ja gar nicht. Vielleicht machst du dir zu viel Gedanken, was andere denken.
Sie antwortet nicht, aber ihr Blick verändert sich. Es ist ein Abschied, nicht direkt von ihm, weil sie sich bestimmt immer wieder begegnen werden, sondern von einer Welt, die identisch ist mit dieser, bis auf die Tatsache, dass sie zusammengeblieben wären, eine Welt, die sie sich in allen Einzelheiten ausgemalt hat und von der sie sich erst in diesem Augenblick trennt. Eine unglaubliche Traurigkeit überkommt ihn. Auf einmal bereut er seine Entscheidung. Als würde die Sehnsucht nach dieser anderen Welt von ihrem Körper auf seinen überspringen und wie ein Geist in ihn eindringen. Vielleicht fühlt er sich jetzt so wie sie vor einer Minute.
Was ist?, fragt Dália.
Er könnte weinen. In Wirklichkeit wird er nie erfahren, wie sie sich gefühlt hat. Er hätte sie fragen können. Sie hätte es ihm gesagt. Er räuspert sich und erzählt ihr, dass Beta am frühen Nachmittag überfahren wurde.
Oh Gott, wie schrecklich. Wird sie denn wieder gesund?
Im Moment geht es ihr sehr schlecht. Aber wird schon wieder.
Und bei dir alles in Ordnung?
Ja. Mir geht’s gut.
Die anderen fangen an, die Tische rauszustellen, Dália muss arbeiten.
*
Die Wellen schlagen gegen die Felsen, erst ein dumpfer Aufprall, dann ein brausendes Keuchen. Er vermischt eine Dose Thunfisch mit Mayonnaise, schneidet eine Tomate in Scheiben und macht sich ein paar Sandwiches. Er kann die Hündin riechen, sieht ihre kurzen bläulichen Haare auf dem Bodenliegen und den leeren Futternapf auf dem feuchten Stein hinter der Küche.
In diesem Moment hat er eine kurze Vision davon, wie und wo er sterben wird. Keine detaillierte Szene, eher lose Bilder, die sich zu einem klaren Muster zusammenfügen. Es ist nicht das erste Mal, dass er sich seinen Tod vorstellt. Er tut das regelmäßig und ist sich ziemlich sicher, dass alle anderen es auch tun. Aber diesmal ist es anders. Er reißt ein Blatt aus einem alten Kalender, den er als Notizblock benutzt, findet zwischen Obstschale und Zeitschriften einen Kugelschreiber und notiert ein paar Zeilen, darunter setzt er das Datum und seine Unterschrift. Sein Herz klopft. Er macht eine Dose Bier auf und ruft Bonobo an.
Hast du Lust, auf ein Bier vorbeizukommen?
Aber sicher. Lass mich nur kurz noch ein paar Sachen erledigen. Ich bin in einer Stunde bei dir. Ich wollte sowieso mit dir reden. Vielleicht kannst du mir helfen.
Plötzlich wird es nochmal warm. Hungrige Moskitos kommen aus ihren Löchern, in denen sie sich während der kalten Jahreszeit verstecken. Er versprüht überall Insektenspray, bis er es nicht mehr in der Wohnung aushält.
Bonobo kommt zirka zwei Stunden später mit einem Zwölferpack Dosenbier und einer Salami, die er mit einem kleinen Taschenmesser enthäutet und in Scheiben schneidet. Er werde ein Gebet für Betas Genesung sprechen, sagt er.
Er gibt Bonobo das zusammengefaltete Kalenderblatt und wartet, während er
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