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Flut

Flut

Titel: Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Galera
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Niemand erinnerte sich an ihn. Aber das konnte nicht sein, weil ihn ja jeder gekannt hatte. Die Leute logen. Ich weiß nicht, warum. Wenn ich jemanden fragte, Wo ist der Kerl, der mich mit dem Messer verletzt hat?, hieß es, Keine Ahnung, vom wem Sie reden. Na, der Gaúcho. Ist er weggegangen? Oder hat er den Löffel abgegeben? Ich weiß nicht, wen Sie meinen. Ich musste nur seinen Namen aussprechen, schon verstummten die Leute.
    Mein Vater hat mir erzählt, er wurde auf einem Fest ermordet. Das Licht ging aus, und mehrere Leute stachen auf ihn ein.
    Wirklich?
    Das hat man ihm damals zumindest erzählt. Offenbar hat er so lange Ärger gemacht, bis sie beschlossen, ihn loszuwerden. Und zwar so, dass man nie erfahren wird, wer ihn umgebracht hat. Vielleicht tun deswegen noch heute alle so, als hätte das alles nicht stattgefunden.
    Kann sein. Das wusste ich nicht. Wusstest du das, Homero?
    Nein. Ich wohne jetzt seit fünfundzwanzig Jahren hier und habe noch nie etwas davon gehört. Aber man erzählt sich so einige Geschichten hier. Zum Beispiel von dem Geist eines Wals.
    Das würde natürlich einiges erklären, überlegt Mascarenhas. Vielleicht war es ja wirklich so. Vor allem, weil …
    Er hält inne.
    Vor allem, weil was?
    Ich weiß nicht, ob ich überhaupt davon anfangen soll, ich bin mir auch nicht ganz sicher. Aber irgendjemand muss mir damals davon erzählt haben, sonst würde ich mich jetzt nicht daran erinnern. So etwas denkt man sich nicht aus. Es hieß, der Gaúcho hätte ein Mädchen umgebracht.
    Tatsächlich? Ein Mädchen aus der Stadt?
    Keine Ahnung. Mehr weiß ich nicht. Wenn ich es richtig verstanden habe, soll sie sehr jung gewesen sein. Man hatte ihre Leiche gefunden, und Gerüchten zufolge war er es.
    Wie wurde sie getötet?
    Mein Junge, ich hab keine Ahnung, das hab ich dir doch schon gesagt. Ich weiß nicht mal, ob es stimmt. Zumindest glaube ich, dass dein Großvater mehr als nur ein paar Leuten ein Dorn im Auge war. Kann sein, dass er ein grausames Verbrechen begangen hat und man dahintergekommen ist und auf diese Weise mit ihm abrechnen wollte. An jenem Abend auf dem Fest. Aber ich kann mich auch irren. Das ist das Problem mit dem Schnaps. Man wird alt und erinnert sich nicht mehr richtig.
    Er denkt darüber nach und sagt nichts mehr. Er hätte seinem Großvater einiges zugetraut, aber nicht, dass er ein Mörder war und schon gar nicht ein Psychopath. Der Gedankewill ihm nicht in den Kopf, sein ganzer Organismus wehrt sich dagegen.
    Vor ein paar Wochen wurde ein Mädchen in Imbituba ermordet, sagt er plötzlich. Habt ihr das mitbekommen?
    Índio Mascarenhas und Homero sehen erst ihn an, dann einander, dann wieder ihn.
    Der Typ hat sie stranguliert. Und ihr danach Augen und Lippen rausgerissen.
    Der Sänger schaut in seinen Plastikbecher und trinkt den Rest mit einem Schluck aus.
    Seine Tochter kommt mit dem Liebesapfel und zwei Reais in der Hand zurück.
    Behalt das Geld, Prinzessin, sagt Homero. Falls dein Vater es erlaubt.
    Darfst du. Sie kann mit Geld umgehen. Ihr Vater gibt ihr Taschengeld. Wie heißt das?
    Danke, sagt   sie artig.
    Und du, Enkel vom Gaúcho, was hat dich hierher verschlagen?
    Nachdem mein Vater gestorben ist, habe ich beschlossen, am Strand zu leben. Ich bin Sportlehrer. Ich gebe Lauf- und Schwimmunterricht.
    Sehr gut, sehr gut … ein guter Ort, um Sport zu treiben, nicht wahr? Mascarenhas lächelt ohne jede Spur von Sarkasmus. Seine wässrigen Augen sind wie die eines Kindes, aus ihnen spricht eine Naivität, die im kompletten Gegensatz zu seiner Erscheinung steht. Der abrupte Themenwechsel, der plötzliche Übergang ins Beliebige scheint ihm gar nicht bewusst.
    Ja, das ist wirklich ein Paradies hier, sagt Homero. Wer Lebensqualität sucht, für den gibt es keinen besseren Ort.
    Das Meer ist der Urschleim, sagt Índio Mascarenhas feierlich. Die Quelle des Lebens. Von dort kommen wir, dorthin gehen wir zurück.
    Ja, das stimmt, pflichtet er ihm halbherzig bei. Danach entschuldigen sich die Männer und verabschieden sich freundlich. Homero hat angeblich noch etwas zu erledigen, und Mascarenhas will sich, wenn er ihn recht verstanden hat, mit seiner Tochter auf den Schultern bis zur Hauptbühne vorkämpfen, damit sie den Anfang der Show von Claus und Vanessa nicht verpasst.

7.
    Ein Mann in tarnfarbenem Neoprenanzug trägt eine Tasche mit Tauchequipment zu einem orangenen Boot, das vor dem Felsen auf dem glatten Wasser liegt. In dem Boot sitzt ein anderer Mann, ebenfalls im

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