Flutgrab
hin. Der hatte noch immer nicht begriffen, legte den Kopf in den Nacken und versuchte, möglichst wenig Wasser zu schlucken. Was nicht gelang, weil er weiter trat und um sich schlug.
»Packt es. Los doch! Der Ast!«
Endlich. Als Rungholt ihm das Holz direkt unter die Arme schob, griff er zu. Der Eindruck, es könne der Schmied sein, war längst verflogen. Dieser Mann hatte ein Mondgesicht, seine Wangen liefen in einem beinahe perfekten Halbkreis aus, der nur durch sein Doppelkinn zerstört wurde. Aus seinen Augenbrauen staksten Ringe anstatt Härchen, und Rungholt meinte, einen Lentner an ihm zu sehen.
Spuckend und hustend versuchte der Fremde ruhiger zu atmen und klammerte sich an den Ast. Er musste Rungholt zwischen die Häuser gefolgt sein.
»Ich ziehe dich raus. Warte … Wer bist du?« Rungholt tastete sich mit dem Fuß näher an die Grube. Sie war schmaler als gedacht, jedenfalls konnte er bis zur Seite des Mannes vordringen und ihn am Leder packen. Der Fremde hatte tatsächlich einen mit Eisenplatten bewehrten Leibrock an.
»Wer bist du? Wer schickt dich?«
Er musste nachgreifen, das Leder des Lentners glitschte durch seine Finger.
»Wer bist du?«
»Ich …« Der Fremde spuckte Wasser und Kot, versuchte vergeblich, etwas zu sagen. Mit Leibeskräften zog Rungholt, um ihn aus dem Modder zu fischen. Es wollte nicht gelingen.
»Hilf …«, brachte der Mann heraus.
»Ich helfe dir ja … Ja …« Rungholt keuchte. Der Mann war einfach zu schwer, und die Fäkalien zogen unablässig. Mit einem Mal flatterten seine Augen, und er drohte, an den Stock geklammert und halb über dem Rand der Grube, ohnmächtig zu werden.
»Schau mich an! Schau mich an! Du musst schon mithelfen. Du musst versuchen, die Füße … Schau mich an.«
Da riss mit einem Mal der schwere Rock. Die Naht platzte an der Schulter auf, und als der Mann mit seinem ganzen Gewicht zurück ins Bodenlose sackte, brach der Stock, und Rungholt, ein Ende immer noch in der Hand, stolperte und fiel auf den Rücken. Ehe Rungholt sich auf die Knie gedreht hatte, war der bewusstlose Mann bereits bis zur Stirn im Modder versunken.
Rungholt stürzte vor, kroch auf allen vieren, warf sich ins Wasser, dem Schlamm entgegen. Seine Hände griffen ins Schwarze, versuchten, den Kopf zu greifen, Haare, irgendwas.
Er griff ins Leere, durchwühlte das Nichts und fand niemanden.
Irena war unter das Eis geglitten, war lange zu sehen gewesen. Ihr Gesicht, vom Eis bedeckt, unter seinem, viele Atemzüge lang, warten und beten. Von diesem Mann jedoch blieb nichts. Einmal mit dem Kopf im Schwarz, war es, als löste der Modder ihn einfach auf.
Vor Anstrengung zitternd, wich Rungholt zurück und setzte sich ins Wasser. Seine Hände waren mit Kot und Dreck beschmutzt. Der Regen wusch den Schlamm zu langsam ab, also fuhr er damit durch die Flut, in der er saß. Er blickte noch lange abwechselnd auf das unsichtbare Loch und auf die Backsteinschmiede, die keine mehr war.
25
»Jakobus! Jakobus!« Rungholt rüttelte an der Tür zur Sakristei. Sie war nicht verschlossen, aber irgendetwas blockierte sie nach einer Handbreit. Er zögerte, noch einmal laut zu klopfen, und sah sich zum riesigen Kirchenschiff um. Er wollte kein Aufsehen erregen.
Nachdem der Mann ihm zwischen den Fingern hindurchgerutscht und nicht wieder aufgetaucht war, hatte Rungholt lange gegrübelt. Normalerweise wäre er wohl sofort zu Dartzow geeilt. Doch der hatte andere Probleme, so wie sich die Lage im Rathaus vor wenigen Stunden zugespitzt hatte. Die Riddere hatten jene drei Aufständischen, Handwerker allesamt, die mit Fackeln zum Rathaus geeilt waren, brutal aufgehalten. Einer der Fleischhauer war im Vestibül des Rathauses den Schwertverletzungen erlegen, einen zweiten hatte man verhaftet. Der dritte Mann konnte entkommen.
Sollte er zu Kerkring gehen? Den Blick aufs Wasser gerichtet, auf die schwarzen Schlieren, die sich wie in seinem Albtraum langsam verteilten und den Pfützen unendliche Tiefe gaben, hatte er sich entschieden, nicht Bericht zu erstatten, und war auf direktem Weg nach Hause geeilt. Er hatte Hilde die dreckigen Kleider hingeworfen und sich umgezogen. Mein Verfolger, was auch immer er von mir wollte, so hatte er sich die ganze Zeit gut zugeredet, führte sicherlich nichts Gutes im Schilde, und die Sache zu melden macht ihn auch nicht wieder lebendig.
Solche Unfälle kamen immer wieder vor. Mit Glück würden sie die Leiche nach dem Ende des Regens finden, vielleicht auch erst,
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