Flutgrab
stand auf und stellte sich zu ihr. Ihre Hände waren faltig und rau, die Hände einer Frau, die ihr Leben lang hart angepackt hatte. Sie waren nicht so fein wie Alheyds. Kunststück, dachte Rungholt, Meenkens’ Frau ist sicher über fünfzig Jahre alt. Kein Wunder, dass sie nicht mehr so gut mit Nadel und Faden umgehen konnte. Ihre Kreuzstiche waren unpräzise und saßen nur ungenau im Raster. Sie war gerade dabei, eine Haube mit einem Blumenmuster zu verzieren.
»Sieht hübsch aus. Sehr fisselig, hm? Das Muster ist bestimmt nicht leicht.«
Sie lächelte scheu, blickte aber sogleich wieder auf ihre Stickerei. »Man soll nicht klagen«, murmelte sie. »Es geht schon. Es ist nur eine einfache Blume, wisst Ihr.« Komplimente war sie scheinbar nicht gewohnt. Für die Frau eines Handwerkermeisters hatte sie erstaunlich viele Ringe an der Hand. Schlecht schien es Meenkens mit seiner Arbeit nicht zu gehen.
»Ist schwer ohne Agnes? Hab ich Recht?«
Sie nickte, riss den Faden mit den Zähnen ab und begann, eine andere Farbe einzufädeln.
»Was hat sie als Letztes getan? Ich meine, bevor sie verschwand?«
»Agnes?« Sie legte das Stickzeug beiseite.
»War sie nervös, war sie aufgebracht? Hat sie irgendetwas getan, was sie sonst nicht getan hätte? Vielleicht hat sie jemanden getroffen? Vielleicht etwas gekauft? Sich verschuldet? … Irgendetwas?«
Die Alte musste lächeln. »Sie war verliebt.«
»Verliebt? Oh. Das ziemt sich nicht.«
»Nein. Tut es nicht … Aber das junge Ding war ganz verwirrt.«
»Auf wen hatte sie denn ihr Auge …« Rungholt tat, als müsste er verlegen abbrechen. Er nippte noch einmal an seiner Henkelkanne und ließ den Deckel absichtlich laut zufallen. Sie fuhr zusammen. »Oh, entschuldigt … Auf wen hatte sie denn … Ihr wisst schon …«
Ein Lächeln umschmeichelte Gretekes Lippen. »De Grypsen.«
»Grypsen?«
»Gryp. Der Schmiede-Gryp.«
Beinahe verschluckte sich Rungholt an seinem Bier. »Einen Schmied?«
»Ja. Den Schmied aus der Glockengießergasse. Hinten an der Mauer. Ihr kennt den Mann nicht? Schreckliche Erscheinung, aber ein herzensguter Kerl. Witwer. Hat seine Frau 1380 beim Aufstand verloren.«
»So?« Rungholt musste sich anstrengen, nicht zu lachen vor Erleichterung. Endlich, dachte er, endlich eine erste Spur. Und dann eine so direkte. Gryp, der Schmied. »Schreckliche Erscheinung, sagt Ihr. Aber nicht so hässlich wie dieser Kerl. Schaut, was mir ein Künstler gezeichnet hat.« Er kramte die Skizze des Graveurs hervor. Er hatte sie kaum aufgefaltet, da lag bereits ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Gryp. Das trifft ihn gut. Wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Ich suche diesen Mann. Ich … schulde ihm noch einen Gefallen.«
Versonnen strich sie mit dem Daumen über ihre Stickerei. »Ja, so war er, der Schmiede-Gryp. Immer hilfsbereit.«
»Dann ist er oft hier?«
»Er hat oft ausgeholfen. Mein Mann hat es mit dem Kreuz, kann den Hammer und den Bandhaken kaum halten … Hat immer gut gegessen hier. So haben sie sich auch kennengelernt.«
»Verstehe.«
»Herzensgut. Er hat unserer Agnes Geschenke mitgebracht. Und er war Meister. Einer Heirat hätte nichts im Wege gestanden.«
»Verstehe«, sagte Rungholt abermals, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. In den Augen der Alten bildeten sich Tränen.
»Und wo ist Gryp jetzt? War er zur Beerdigung da?«
Sie schüttelte seufzend den Kopf. »Ich befürchte, ihm ist auch etwas zugestoßen.«
Fast hätte er sie angefahren. Das konnte doch nicht wahr sein! Doch dann bekam Rungholt ein mitfühlendes Nicken zustande.
»Wollt Ihr Agnes’ Zimmer sehen? Sie hat ihn geliebt.«
Voller Elan stellte Rungholt seinen Henkelkrug ab und wischte sich den Bierschaum vom Mund. »Ganz vorzüglich, Euer Bier«, säuselte er und half ihr auf. »Wenn Ihr mir das Gemach zeigen würdet, könnte ich ihn vielleicht finden.«
Rungholt folgte ihr die schmale Wendeltreppe in den ersten Stock hinauf, wo Agnes eine kleine Kammer neben dem Schlafgemach der Hausherren hatte.
Meenkens’ Weib wollte gerade öffnen, als ein Ruf sie beide zusammenfahren ließ:
»He Ihr! Was wollt Ihr hier? Greteke?« Der Böttcher stand bei seinen Fässern in der Diele, schaute hoch und musterte beide wütend. »Greteke! Was treibst du da?«
»Der Herr hat mich nur gebeten, ihm Agnes’ Gemach zu zeigen. Er steht im Dienste von Eric Dartzow. Und er meinte, er könne vielleicht Gryp …«
»Kerkring schickt mich. Der Rychtevoghede. Ich soll
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