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Flutgrab

Flutgrab

Titel: Flutgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meister Derek
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ihn im Keller gefunden?«
    Jakobus nickte.
    »Weißt du, seit wann Peterchen verschwunden war? Hat er gesagt, wo er seinen Sohn zum letzten Mal gesehen hatte?«
    Erst schüttelte Jakobus den Kopf, dann fiel ihm doch noch etwas ein. »Das letzte Mal habe ich Peterchen jedenfalls vor zwei Wochen gesehen. Am Samstag. Ich habe beim Schiffbauer Poling einen Hausbesuch gemacht, und da ist er rumgesprungen.«
    »Poling?« Rungholt hatte den Namen bisher nicht gehört. Im Gegensatz zu d’Alighieri kannte er von den zwanzigtausend Einwohnern Lübecks nicht jeden.
    »Er hat eine kleine, aber gute Werkstatt. Wurde mir gesagt. Ich meine, dass sie gut ist, wurde mir gesagt. Im Marienquartier. Mornewech hat für ihn ab und an gearbeitet.«
    »Für einen Schiffbauer? In Lübeck?« Die Vorstellung, er könnte einen Schiffbauer übersehen haben, der ganze Kähne mitten im Marienquartier baute, war geradezu abstrus.
    »Stecknitzkähne.« Jakobus lachte. »Eine Lastadie wie Lüdje, Rungholt, hat der lange nicht. Der baut keine Koggen. Er ist auf kleine Treidelboote spezialisiert. Hat einen alten Schuppen gemietet. Sollen wohl ganz wendig sein, seine Kähne. Laufen gut, seine Geschäfte. Darf ich das verraten?« Jakobus kratzte sich die Tonsur.
    »Wir sind ja unter uns.« Rungholt klopfte dem Pfarrer die Schulter. »Apropos Verschwiegenheit … Hast du so etwas schon mal gesehen?«
    Er wickelte den Kinderschädel aus dem Tuch und packte ihn auf den Buchstapel. Beinahe tat es ihm leid, Jakobus den Anblick nicht ersparen zu können. Der Pfarrer wurde mit einem Schlag bleich. Mit offenem Mund starrte er den Knochen an, rang um Fassung. Dann begann er, sich unablässig zu bekreuzigen. »Ave Maria, gratia plena. Dominus tecum. Benedicta tu in mulieribus … Das sind Runen. Das … Mein Gott. Das ist doch der Kopf eines …«
    »Eines Kindes.«
    »Und wozu ist der da …? Ich meine, warum …« Er konnte nicht weitersprechen. Fassungslos glotzte er den Schädel an, bis seine Neugierde doch überwog und er sich ihm mit dem Zeigefinger näherte. Als prüfte er die Hitze einer heißen Suppe, stippte er ganz, ganz vorsichtig den Schädel an. Erst einmal, dann ein zweites Mal.
    »Ich weiß nicht, wozu er gebraucht wurde. Vielleicht ist er Schmuck? Vielleicht ein Andenken.«
    »Andenken?« Abermals bekreuzigte sich Jakobus. »Sieht aus, als habe er eine Tonsur«, meinte er gequält und deutete auf eine kreisrunde Kerbe direkt oben auf dem Schädel. Die Runen liefen daran entlang. Rungholt war die Kerbe noch gar nicht aufgefallen. Sie war nur so tief, wie ein Fingernagel dick ist.
    Rungholt legte seine Pranke auf die Runen und testete den Durchmesser des Kreises. Er entsprach beinahe exakt der Kuppe seines kleinen Fingers.
    »Und hast du das gesehen?« Jakobus hatte sich hinabgebeugt und dem Kinderschädel durch die Augenhöhle gesehen.
    »Die Mulden? Es sind zwölf.«
    »Zwölf Jünger. Zwölf Stunden hat der Tag, zwölf Monate das Jahr …«, flüsterte Jakobus, der sich nicht von dem Anblick trennen konnte. »Zwölf heißt Glück. Eine Zahl für das Vollständige.«
    Stimmen drangen in die Sakristei.
    »Die Messdiener! Schieben wir den Stapel wieder vor, dass sie uns nicht stören«, sagte Jakobus schlicht, schlüpfte gekonnt zwischen den Büchern hindurch und nahm einen langen Schürhaken von der Wand. Ohne Anstrengung, kein Stöhnen, kein Murren, zog er damit die Codices wieder zurück vor die Tür.
    Ungläubig sah Rungholt dem Pfarrer dabei zu. Er hatte sich hier eine Trutzburg eingerichtet, mitten in St. Marien, in der größten Kirche weit und breit.
    Wahrscheinlich muss er sich vor zu vielen aufdringlichen Weibern und ihren büßenden Ehemännern schützen, dachte Rungholt.
    »Kannst du die Runen lesen? Hast du ein Buch darüber? Irgendwas in diesem scheußlichen Latein?«, fragte er.
    »Runen? Ein Buch? Nein. Darüber gibt es keine Bücher, Rungholt. Gott bewahre. Natürlich nicht. Damit musst du zu einer Hexe gehen.« Sich bekreuzigend legte er seine beringte linke Hand auf Rungholts Pranke und grinste. »Aber das habe ich nie gesagt. Töversche reden mit der Zunge des Teufels. Man darf ihnen nicht glauben. Solltest du dennoch ihre Lügen hören wollen, komm danach zu mir und beichte.«
    Es klopfte.
    »Ich bin nicht da«, rief Jakobus durch die Tür. »Ich studiere.«

26
    Die Stunde zwischen Tag und Nacht wurde fortgespült von hunderttausenden Kannen Wasser. Es kam Rungholt so vor, als stünde die Erde still und schöpfe Atem. Doch

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