Flutgrab
wofür sie sich wappnete, vermochte er nicht zu sagen. Der Himmel in dieser sonst blauen Stunde war bedeckt von eigentümlichen Wolkenbergen. Trotz ihrer Schwärze kam es Rungholt vor, als leuchteten sie.
Kaum war er aus St. Marien getreten und hatte sich auf den Weg zu Sinje gemacht, hatte der Regen noch einmal an Stärke zugenommen. Die großen Tropfen regneten nicht herab, sondern flossen wie ein Strom. Als kippte der Herr Fuder um Fuder aus seiner Wrasenstadt auf sie nieder. Während er Marek und Sinje beim Abdichten ihrer Hütte geholfen hatte, erfragte er von ihr, wo er eine Töversche finden konnte. Widerstrebend nannte sie ihm eine, bat ihn eindringlich, nicht dorthin zu gehen, aber Rungholt ließ sich von dunklen Prophezeiungen nicht abhalten.
Marek hatte ihm ein Bastardschwert geliehen und Sinje eine Heuke aus dickem Filz, die ihm zumindest für ein paar Straßen das Wasser vom Leib halten würde, dann war er ins Marienquartier aufgebrochen.
Zwei Weiber und ihre Kinder kamen ihm wie ein Trauerzug auf Höhe der Kleinen Kiesau entgegen. Rungholt musste an den Fremden denken, den er nicht hatte retten können, und wandte sich mit einem Kloß im Hals ab.
Obwohl er das Gefühl hatte, bei jedem Atemzug im Regen beinahe zu ertrinken, ging er nicht direkt in die Stavengasse, sondern bog von der Kiesau in die Große Petersgrube ab und befand sich wenig später am Holzgatter zu Polings Werkstatt. Es konnte nicht schaden, den Schiffbauer nach Peterchen zu befragen, immerhin war der Mann wohl einer der Letzten, die ihn gesehen hatten.
Polings Werkstatt bestand aus einem dreistöckigen Haus, das direkt an die Stadtmauer gebaut worden war. Rungholt konnte kein Licht sehen, klopfte aber dennoch. Niemand öffnete.
»Poling«, rief er und pochte ein zweites und ein drittes Mal. Nach kurzem Überlegen zog er einfach an der Tür. Sie war verschlossen.
An der Seite erstreckte sich hinter einem kopfhohen Pfahlzaun ein Platz, auf dem drei Stecknitzkähne auf ihre Fertigstellung warteten. Schwarze, schlanke Boote, kalfatert und mit Pech eingerieben. Der Regen hatte die Holzböcke unterspült, sodass zwei der Schiffe heruntergerutscht waren und kieloben im Wasser dümpelten. Wie lange schon, vermochte Rungholt nicht zu sagen. Er versuchte, durch das Gepladder und die Holzstäbe einen besseren Blick auf das Gelände zu bekommen, und wischte sich das Wasser vom Gesicht. Es war unangenehm, Sinjes Gugel zu tragen, weil sich die Hitze unter ihr staute. Die Kapuze war eher etwas für einen Schneesturm als für einen Sommerregen. Dennoch zog er sie tiefer über die Stirn und presste seinen Kopf an den Zaun.
Es lag Werkzeug auf einem der Schiffsrümpfe, und Rungholt sah, dass Poling ein Segel gegen den Regen aufgespannt hatte. Die Last des Wassers hatte es jedoch aus den Ösen gerissen. Als er seinen Blick weiterschweifen ließ, bemerkte er einen Schatten am Ende des Hofs. Jemand stand unter einem Vordach und passte zwei Ochsen Hufeisen an.
»Poling?«, rief er, aber der Schatten reagierte nicht. Wahrscheinlich konnte er ihn durch das Regenprasseln nicht hören. Rungholt versuchte es ein zweites Mal, tatsächlich hob der Mann den Kopf, suchte mit den Augen den Zaun ab.
Anstatt einer Cotte oder Schecke hatte der Mann sich ein Lederwams übers gebleichte Surkot geschnallt, das an der Seite mit modischen Ösen gehalten wurde und aussah, als habe er es erst am Morgen eingefettet. Seine Wangen wirkten hart in dem fahlen Licht.
Ihre Blicke trafen sich, jedenfalls hatte Rungholt das Gefühl. Aber der Mann schien ihn hinter den Pfählen nicht zu sehen, obwohl Rungholt noch mehrmals rief. Schließlich nahm der Mann eine Wollmütze vom Hintern des Ochsen, setzte sie auf und verschwand im Dunkel des Schuppens.
In der Hoffnung, er hole bloß etwas, wolle mit den Ochsen zur Straße hinaus oder gehe zurück in seine Werkstatt, verharrte Rungholt noch eine Weile am Zaun. Nichts.
»Verflucht noch mal«, knurrte er, zog Mareks Bastardschwert und schlug damit gegen die Zaunpfähle, ließ die Klinge ans Holz klackern, schritt den Zaun ab und versuchte, so laut wie irgend möglich zu sein.
Der Mann kehrte nicht zurück.
Grollend ließ er seinen Blick ein zweites Mal über die Boote, die Böcke und das abgerissene Segel gleiten. Beinahe hätte er vor lauter Schauen die Scheide nicht getroffen und sich mit dem Schwert den Dupsing aufgeschlitzt.
Das Werkzeug. Damit hatte er nicht gerechnet: In den Griff eines breiten Spatels, der auf einem der
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