Föhn mich nicht zu
gerne mit dem Unterricht anfangen … Ruhe!! … Paul!! Geh jetzt an deinen Platz!!! … Ailyn, gibt Sophie den Stift wieder! … Und setz dich endlich hin!!!»
An dieser Stelle hätte ich die Schüler normalerweise einen Zettel herausholen und mit ihrem Namen versehen lassen. Stattdessen
nahm ich die
taz
aus meinem Rucksack, setzte mich und begann, im Politikteil zu lesen. Zunächst brachte das gar nichts. Die Schüler schienen
von meiner Aktion nicht mal Notiz zu nehmen. Der Geräuschpegel blieb jedenfalls unverändert. Doch dann, nach etwa zwei Minuten,
ich war mittlerweile auf der Schwerpunktseite angelangt, hörte ich endlich ein: «Ey, schaut mal, Herr Serin liest Zeitung!»
Wahrscheinlich kam dieser Ausruf von Max, aber sicher war ich mir da nicht. Ich durfte ja nicht von meiner Lektüre aufblicken, |88| schließlich war hier konsequentes Lesen nötig, bis alle Schüler begriffen hatten, dass es ihre Lernzeit war, die gerade flöten
ging, dass sie den Schaden hatten.
Mahmoud rief: «Machen wir heute kein Unterricht?»
Was sollte ich jetzt tun? Ich konnte der Klasse wohl kaum erklären, dass es sich bei meinem Zeitungsstudium um einen Trick
handelte, mit dem ich sie dazu bringen wollte, ruhig zu werden und aufmerksam dem Unterricht zu folgen. Ich zog es vor, gar
nicht auf die Frage einzugehen – und las stattdessen konzentriert weiter. Zwei Seiten später stellte ich das Experiment schließlich
frustriert ein, denn ich wurde von den Schülern nicht einmal mehr beachtet. Und zehn Minuten vom Unterricht waren bereits
vorbei. Vielleicht war der Überraschungseffekt der
taz
nicht groß genug. Vielleicht hätte ich mich lieber in den
Hustler
vertiefen sollen. Oder Liegestütze machen. Oder Xbox spielen. Aber in dieser Stunde wäre ein Umschwenken auf alternative Optionen
unmöglich. Für diese Stunde würde ich notgedrungen auf Altbewährtes zurückgreifen müssen: «So, jetzt reicht’s mir! Packt bitte
alle Sachen weg! Holt nur einen Stift raus und ein leeres Blatt! Schreibt auf dieses euren Namen …»
|89| Raum 020, Mittwoch, 8.09 Uhr, 1. Stunde, Geschichte 8c
Sarah: Können wir heute früher Schluss machen?
Ich: Bevor wir Schluss machen können, müssten wir zunächst anfangen. Es wäre darum schön, wenn ihr mal ruhig wäret.
Tancan: Aba wir schreiben Klassenarbeit Englisch.
Ich: Wann denn?
Mehrere Schüler durcheinander: Freitag.
Ich: Das sind noch zwei Tage. Da mach ich bestimmt nicht früher Schluss.
Mehrere Schüler durcheinander: Alle Lehrer machen früher Schluss.
Ich: Das kann ich mir nicht vorstellen.
Die ganze Klasse: Doch!
Cemal: Fragen Se! Im Sekretariat! Sofort!
Ich: Nee! Mach ich nicht. Jetzt bestimmt nicht.
Cemal: Ihr Unterricht is voll langweilig! Wenn ick Sie mal auf der Straße seh, dann … (vernuschelt den Rest).
|90| 14
Aussprache auf Arabisch
«Das muss natürlich Konsequenzen haben! Mahmoud darf nicht ungeschoren davonkommen! Das geht nicht! Wir lassen ihn zu mir
rufen.» In der Stunde zuvor hatte mir Mahmoud aus der 10a, nachdem ich ihm für eine Leistungsverweigerung eine Sechs gegeben
hatte, angekündigt, mich nach der Schule zusammenzuschlagen. Ich war sofort im Anschluss an den Unterricht zur Schulleitung
geeilt, denn ich wusste, dass Drohungen von manchen Schülern auch bereits in die Tat umgesetzt worden waren. Zudem wollte
ich sichergehen, dass eine angemessene Sanktionierung erfolgte.
Noch nie hatte Herr Stern auf mich so entschlossen gewirkt. Ich fieberte der Aussprache mit Mahmoud darum regelrecht entgegen,
denn ich wollte meinen Direktor endlich dabei erleben, wie er gegenüber einem Schüler hart durchgriff. Bisher hatte ich ihn
nur als jemanden erfahren, der lieber wegschaute, als den Kollegen bei Problemen Unterstützung zu gewähren. Bei einem vergleichbaren
Anliegen, einige Wochen zuvor, hatte er die Schülerprovokation noch mit der flapsigen Aufmunterung abgetan, ich werde meinen
Weg schon noch gehen. Aber offenbar nahm er die Äußerung diesmal ernster, vielleicht weil es sich nicht wie damals um zwei
Acht-, sondern einen Zehntklässler handelte.
Mein Eindruck, dass Herr Stern diesmal nicht vor Sanktionen haltmachen würde, verstärkte sich während des Gesprächs, das er
im Beisein von Frau Witt mit Mahmoud führte. Mahmouds anfängliches Grinsen wich schnell aus seinem Gesicht, die Versuche,
sich herauszureden und die Drohung gegen mich herunterzuspielen, |91| verebbten ebenso
Weitere Kostenlose Bücher