Föhn mich nicht zu
Mister Artig machen zu müssen. Er versucht, sich bei
mir durch übertriebene Disziplin und Zuvorkommenheit auf Kosten der anderen Schüler einzuschleimen. Das ist unsolidarisch.»
|97| Ich erntete damit bei meinen Kollegen kein Verständnis. Aber das war mir gleichgültig. Um die meisten machte ich sowieso lieber
einen weiten Bogen. Ich war schon immer gegen den Strom geschwommen, was auch erklärte, warum ich die Haltung des Pädagogen
gegenüber Schülerleistungen nun so progressiv neu definierte.
Bereits in meiner Kindheit und Jugend unterschied ich mich von meiner Peergroup. Während meiner Schulzeit gehörte es zum guten
Ton – so wie auch heute –, Lehrer scheiße zu finden und sich nie freiwillig um gute Leistungen zu bemühen. Nur ich war anders als meine Altersgenossen.
Als Nachkomme Luthers hatte ich das protestantische Arbeitsethos in mir. Meine Eltern hatten mir früh eingetrichtert, dass
ich es nur dann im Leben zu etwas brächte, wenn ich fortwährend fleißig bliebe und meine Schulaufgaben immer gewissenhaft
erledigen würde. Ich sah keinen Grund, an dieser These zu zweifeln. Schließlich kam sie von meinen Eltern. Die mussten es
wissen.
Aber ich war nicht nur strebsam, sondern sah mich zugleich in vielen Situationen in der Pflicht, meine pubertierenden Mitschüler
zu maßregeln. Etwa, wenn sie sich im Unterricht danebenbenahmen: «Ey, Engin! Beim Melden nicht schnipsen! Grade sitzen und
Ellenbogen bitte auf dem Tisch lassen!» Oder wenn sie über die blöde Schule herzogen: «Ihr lernt für das Leben, nicht für
die Schule. Das solltet ihr nicht vergessen!» Wenn sie in der Pause ihre Hausaufgaben schnell noch erledigten, belehrte ich
sie: «Hausaufgabe heißt Hausaufgabe, weil man sie zu Hause machen muss. Ich glaube, ihr habt das Prinzip nicht verstanden.»
Oder wenn sie bei Klassenarbeiten abschrieben: «Ey, Matthias! Nicht von Bilguun abgucken! Du betrügst dich nur selber. So
weißt du nicht, was du tatsächlich zu leisten imstande bist. Frau Schall, ich möchte, dass Sie die Arbeit von den beiden einsammeln!»
Noch heute versinke ich vor Scham im Boden, wenn ich an |98| mein damaliges peinliches Verhalten denke. Doch damals wähnte ich mich absolut im Recht und konnte es nicht fassen, wie wenig
erkenntlich sich meine Mitschüler dafür zeigten, dass ich ihr schlechtes Gewissen war. Ich war ein Außenseiter und wurde regelrecht
gemobbt. Doch das war nicht weiter dramatisch, schließlich bekam ich Anerkennung von den Menschen, die mir wirklich wichtig
waren: den Lehrern. Seit der neunten Klasse durfte ich mehrmals in der Woche die Pausenaufsicht auf dem Schulhof übernehmen,
was eigentlich nur Lehrkräften vorbehalten war. Und ich durfte zur Wahl für den Vertrauenslehrer antreten, erhielt aber leider
keine Stimme, weil die Wahlberechtigten aus mir unerklärlichen Gründen die Schüler waren.
Auf Klassenfahrten nahm ich als Einziger meine Schulsachen mit, um in den freien Stunden lernen zu können und nicht den ganzen
Stoff wieder zu vergessen. Und auch sonst entzog ich mich ihrem schlechten Einfluss. In der Achten fuhren wir ins Riesengebirge,
und auf dieser Reise gab es mehrere Modeerscheinungen: Begeisterung für das Sportdeo von adidas, Begeisterung fürs Joggen
und Begeisterung fürs Meditieren. Ausgelöst wurden sie alle von dem attraktivsten Mädchen der Klasse: Maria. Die Jungen machten
mit, weil sie etwas von Maria wollten, die Mädchen, weil sie hofften, dass sich die Jungen, die nicht bei Maria landen konnten,
schließlich doch noch ihnen zuwenden würden. Ich musste über so viel adoleszente Unreife den Kopf schütteln. Klar, auch ich
wollte irgendwann mal eine Freundin haben. Aber was nützte die beste Freundin, wenn man nicht für sie sorgen konnte? Darum
wollte ich damit warten, bis ich mich beruflich etabliert hatte. Zumal Maria meine Liebe nicht erwiderte.
Natürlich war ich in der Disko während dieser Klassenreise nicht der umjubelte Star. Ich fing mir sogar Buhrufe ein, als ich
diesen Lärm von Nirvana, Pearl Jam und Body Count unterbrach und von Elton John «Your Song» auflegte. Ich ließ mich vom |99| infantilen Gebrüll meiner Klassenkameraden aber nicht beeindrucken, und als Sir Elton anstimmte zu
It’s a little bit funny this feeling/inside I’m not one of those who can easily hide 8
, da wandte ich mich an unsere neunundfünfzigjährige Klassenlehrerin: «Frau Petzold, wollen Sie tanzen?» Sie wollte.
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