Föhn mich nicht zu
geweint?»
«Noch nicht. Ihre Lippen haben nur gezittert.»
Es klingelte.
«Wie? Noch nicht? Ging es etwa noch weiter?»
Herrn Rauters Lippen zitterten nun ebenfalls.
«Na ja! Ick hab dann gemeint, dass sie bestimmt denkt, alle aus der Klasse finden sie eklig. Dass ick aber glaube, dass dit
nich so ist. Dass bestimmt viele Jungen aus der Klasse mit ihr gehen würden. Weil die bei ihr nicht so aufs Aussehen achten,
sondern auf den Charakter. Und dann hab ick jefragt, wer denn mit ihr gehen würde. Und da hat sich keiner jemeldet. Und da
hat sie anjefangen zu weinen. Da hab ich gemeint, dass ick mit ihr jehen würde. Dit hat nicht geholfen. Und weil ick da hilflos
war und auch sauer auf die Jungen aus der Klasse, weil die nicht mit ihr gehen wollten, hab ick in meiner Wut jesagt, dass
die Jungen zur Strafe Anna dabei helfen sollen, sich zu kratzen. Und da ist die flennend aus dem Raum jerannt. Ick meine:
Klar, dit war sicherlich nicht jeschickt. |168| Aber sagen Sie, Herr Serin: Rein psychologisch, muss man da flennend aus dem Raum rennen? War dit denn wirklich so schlimm
von mir?»
Ich konnte die Geschichte kaum glauben. Herr Rauter war eigentlich ein sehr angenehmer Mensch. Aber wie konnte er dabei gleichzeitig
so unsensibel sein? Ich mochte mir gar nicht ausmalen, wie er sich verhalten hätte, wenn er es mit einer magersüchtigen Schülerin
zu tun gehabt hätte. Hätte er sie mit ihrer Störung auch vor der ganzen Klasse konfrontiert? Hätte er, um Schülerinnen zu
überführen, die ihr Problem leugneten, die Mülleimer der Mädchentoiletten durchsuchen lassen, weil bei Anorexie die Monatsblutung
ausblieb und fehlende Binden und Tampons somit für ihn ein Beweismittel darstellten? Hätte er die Jungen der Klassen instruiert,
zu den essgestörten Mädchen zu sagen, dass sie so dünn voll scheiße aussähen und zunehmen sollen? Vorstellen konnte ich es
mir.
«Natürlich darf man flennend aus dem Raum rennen», fuhr ich fort. «Ich wäre schon viel früher aus dem Raum gerannt. Versetzen
Sie sich doch mal in ihre Lage! Sicherlich haben Sie es gut gemeint. Aber was zählt, ist das, was bei der Schülerin ankommt.
Und vor allen Dingen auch die Reaktion der Mitschüler. Und vor denen fühlte sie sich ja total gedemütigt. Da müssen Sie wirklich
noch mal mit der Schülerin in Ruhe reden und sich entschuldigen.»
«Echt?» Herr Rauter kratzte sich an seiner Glatze. Sein Blick war zu Boden gerichtet. Und er schien kleiner als sonst.
«Tun Sie es für die Schülerin! Ihr geht’s mit Sicherheit gerade sehr schlecht. Und reden Sie auch mit der Klasse, am besten
in Annas Abwesenheit.» Herr Rauter wirkte auf mich nun nicht mehr aufgeregt, sondern fast ein bisschen betrübt.
«Aber was soll ich denn der Klasse sagen? Und erst Anna?»
Darauf hatte ich keine Antwort. «Tut mir leid, aber das kann |169| ich Ihnen so spontan nicht sagen. Außerdem muss ich jetzt in meinen Unterricht. Ich bin eh schon zu spät. Ich denk aber darüber
nach. Versprochen! Beim nächsten Mal sag ich’s Ihnen.»
Beim nächsten Mal würde ich Herrn Rauter besser aus dem Weg gehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mir etwas einfallen
würde, was er Anna und den anderen Schülern sagen sollte. Hätte ich mit Melanie nicht gerade eine kleine Beziehungspause eingelegt,
hätte ich sie um Rat fragen können. Sie hatte für schwierige Gespräche immer die treffenden Worte gefunden – außer wenn wir
uns stritten.
Lehrerzimmer, Montag, zwischen dritter und vierter Stunde
Frau Reiz: Stephan, ich hab mir Ihren Jahresplan angeschaut. Das können Sie so nicht machen! Da müssen wir noch mal drüber sprechen.
Sie müssen mehr mit dem Lehrbuch arbeiten! Ich setze mich am besten öfter rein in Ihren Unterricht. Für den Fall, dass ich
nächstes Jahr die Klasse übernehmen sollte. Das ist nicht gegen Sie gerichtet. Aber ich hab mit anderen Kollegen schon schlechte
Erfahrungen gemacht.
|170| 27
Langenscheidt oder Handy?
Irgendwo im Raum klingelte ein Handy. Dabei hatte der Unterricht bereits begonnen. Das durfte eigentlich nicht sein. Hatte
ich nicht das Problem Mobiltelefone in der 9b ein für alle Mal zu meinen Gunsten entschieden? Der Kampf gegen elektromagnetische
Wellen hatte mich in dieser Klasse viel Kraft gekostet, obwohl bei meiner Ankunft am Werner-Heisenberg-Gymnasium die Frage
längst beantwortet schien. Auf dem gesamten Schulgelände war die Benutzung von Handys untersagt. Also
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